Totenhauch
klebten.
»Dem Anschein nach ist das schon seit Jahren hier unten.« Devlin bewegte die Taschenlampe von einer Seite auf die andere, um einen besseren Blick zu bekommen. »Es wundert mich, dass es noch nicht auseinandergefallen ist. Vielleicht sind mehr Sehnen und Gewebe erhalten, als wir von hier aus sehen können.« Er schnüffelte. »Aber kein Geruch.« Er holte sein Telefon heraus und schaute auf das Display. »Und auch kein Netz. Wir brauchen die Spurensicherung hier unten. Und Shaw muss noch mal herkommen.« Er sprach ganz ruhig, aber seine Stimme warf ein unheimliches Echo in der Kammer zurück.
Ich hatte ziemlich lange geschwiegen, denn ich traute meiner Stimme nicht. Ich hatte große Angst, ich würde anfangen zu schreien, wenn ich den Mund aufmachte.
Devlin ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe durch die ganze Kammer wandern. »Ich will bloß wissen, wo die Fliegen alle hingeflogen sind.«
Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Jetzt sah ich ihn bestürzt an. »Meinen Sie etwa, irgendwo hier unten wäre noch eine Leiche? Oder jemand, der noch am Leben ist? Jemand …«
Jemand, der sehr langsam stirbt.
Noch vor einer Woche hätte ich mir eine solche Gräueltat nicht vorstellen können. Jetzt spürte ich eine schleichende Gewissheit, als ich auf dieses Loch in der Ziegelwand starrte, auf diesen düsteren, bedrohlichen Eingang.
»Ich muss da hinein und es herausfinden«, erwiderte Devlin, und ich meinte, dass ich einen Anflug von Grauen aus seiner Stimme heraushörte.
»Jetzt gleich?« Ich wollte gar nicht erst darüber nachdenken, was vielleicht jenseits dieser klaffenden Maueröffnung wartete.
»Wenn auch nur der Hauch einer Chance besteht, dass noch jemand hier unten ist, ja. Jetzt gleich.«
»Aber … sollten wir nicht wenigstens auf Verstärkung warten? Sie haben gesagt, es würde bald Hilfe kommen.«
»Dann ist es vielleicht schon zu spät. Manchmal entscheidet eine einzige Minute.« Er sagte das ganz ruhig, und ich musste an seine Frau und an seine Tochter denken, die in dem sinkenden Auto in der Falle gesessen hatten. »Ich muss herausfinden, was da drin ist.« Seine Stimme klang hart und entschlossen. Unmöglich, es ihm auszureden.
»Dann komme ich mit«, sagte ich, obwohl ich in Wahrheit eher aus Furcht handelte als aus Altruismus. Ich wollte nicht allein in dieser Kammer des Schreckens bleiben. Da wollte ich mich lieber dem stellen, was vielleicht hinter dieser Mauer war. Mit Devlin.
Ich dachte, er würde etwas dagegenhaben, und stellte mich schon voll darauf ein, mich durchzusetzen, doch er blickte nur zu den Ketten hinauf und nickte. »Das wäre wohl am besten.«
Er leuchtete mit der Taschenlampe in die Öffnung, stieg hindurch, und ich folgte ihm.
Auf der anderen Seite öffnete sich ein Raum, der hoch genug war, dass man aufrecht stehen konnte. Auch hier waren die Wände aus Ziegelsteinen und mit glitschigem Schleim überzogen. Als Devlin mit der Taschenlampe gerade nach vorn leuchtete, konnte ich nichts sehen außer einem endlos erscheinenden Tunnel.
Der Gang war so schmal, dass wir hintereinandergehen mussten. Wenn ich mich umdrehte, war da nichts als vollkommene Dunkelheit.
»Ich habe über den zeitlichen Ablauf des Ganzen nachgedacht«, sagte ich leise, während ich hinter ihm durch den dunklen Gang ging. »Hannahs Mutter hat gesagt, sie hätte ihre Tochter letzten Donnerstag zum letzten Mal lebend gesehen. Wenn man ihre Leiche vergraben hat, nachdem ich den Friedhof am Freitag um sechzehn Uhr verlassen hatte und bevor um Mitternacht der Sturm losging, könnte sie hier unten gewesen sein, während ich oben auf dem Friedhof die Grabsteine fotografiert habe. Ich könnte direkt über die Stelle gelaufen sein, wo sie hier unten hing. Wenn ich doch nur irgendetwas gehört hätte … oder irgendetwas gesehen hätte! Dann hätte ich die Polizei rufen können und …«
Mit grimmiger Miene sah Devlin mich im Halbdunkel über die Schulter hinweg an. »Tun Sie das nicht. Es gibt nichts, was Sie hätten unternehmen können.«
»Ich weiß, aber es ist hart, wenn man darüber nachdenkt.«
»Es gibt ziemlich viel auf der Welt, was hart ist«, entgegnete er. »Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen wegen etwas, was nicht in Ihrer Macht steht.«
Ich fragte mich, ob er es geschafft hatte, seine eigenen Ratschläge zu befolgen, oder ob er im Kopf immer noch diese entsetzlichen Was-wäre-gewesen-wenn-Gedankenspiele durchging, mitten in der Nacht, wenn er nicht schlafen
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