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Totenhauch

Totenhauch

Titel: Totenhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Stevens
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warum.
    Ich hatte meine Mutter nie gefragt wegen dieser Unterhaltung. Wie einem jeder gute Rechtsanwalt rät, sollte man nie eine Frage stellen, wenn man die Antwort nicht vorher schon kennt. Oder wenn man noch nicht so weit ist, mit den Konsequenzen fertig zu werden. Und das war ich nicht. Ich wollte lieber nicht wissen, warum meine Mutter meine Adoption nicht als Geschenk betrachtete.
    Ich bog rechts ein in die Tradd Street und ließ diese trübe Erinnerung und die Glocken von St. Michael’s hinter mir.
    Vor mir erwachte die Stadt zum Leben. Der köstliche Duft von Kaffee und frischem Gebäck wehte aus den Bäckereien und Straßencafés und lockte die Frühstücksgäste an.
    Je näher ich zum Wasser kam, desto salziger roch die Luft. Mit schnellen Schritten ging ich denselben Weg, den ich am Abend zuvor gegangen war, vorbei an den farbenprächtigen Villen auf der Rainbow Row und an den Herrenhäusern an der East Bay mit ihren eleganten Auffahrten und ihren traumhaft schönen Ziergärten.
    Ich ging bis zum südlichsten Zipfel der Halbinsel, und dort machte ich eine Pause, um den Sonnenaufgang anzuschauen. Ein einsamer Pelikan kreiste über mir. Einen Moment lang sah ich ihm nach, dann senkte ich den Blick auf Fort Sumter, eine im Dunst liegende Silhouette aus zerfallenden Mauern und Südstaatengeschichte mitten im Hafenbecken von Charleston.
    Aus den Augenwinkeln sah ich, dass jemand an das Geländer trat, und drehte mich um, fast schon in der Erwartung, dass es John Devlin war. Der Fremde neben mir war genauso groß und ähnlich gebaut wie der Detective und hatte auch das gleiche reservierte Auftreten. Und trotzdem musste ich bei seinem Anblick sofort an etwas denken   – nicht an Devlin, aber an Devlins Geister. Auch dieser Mann hier hatte eine milchkaffeebraune Haut, die auf eine gemischte Abstammung schließen ließ, doch seine Körperhaltung war gerade, nicht majestätisch, und seineGesichtszüge waren eher hübsch als exotisch. Zumindest nach dem, was ich unter seiner Sonnenbrille von seinem Gesicht sehen konnte. Er trug ausgeblichene Kleidung, doch er kam mir nicht vor wie ein Obdachloser. Aus irgendeinem Grund hielt ich ihn aber auch nicht für einen Touristen.
    Er sah mich nicht einmal kurz an, sondern starrte nur über das Wasser, anscheinend gefangen von der Weite des Hafens.
    Ein Gefühl von Beklommenheit breitete sich in mir aus. Es war sehr ruhig da, wo wir standen, zu früh, als dass hier schon viele Leute gewesen wären. Wer immer meinen Wagen aufgebrochen und meinen Aktenkoffer gestohlen hatte, lief nach wie vor hier draußen herum. Der Mörder des armen Mädchens, dessen Leiche man auf dem Friedhof von Oak Grove gefunden hatte, war noch nicht gefasst.
    War es nur Zufall, dass dieser Fremde genau zu der Zeit, als ich meinen Morgenspaziergang machte, hier auf der Battery auftauchte?
    Ich wollte weg, aber es widerstrebte mir, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, und noch weniger wollte ich ihm den Rücken zukehren. Als würde er mein Unbehagen spüren, wartete er noch einen Moment auf den Sonnenaufgang, dann drehte er sich um und ging langsam davon, verschwand zwischen dem üppigen Blattwerk des Parks White Point Gardens.
    Ich machte mich auf den Heimweg, aß unterwegs einen Bagel und trank einen Kaffee. Mit jedem Schritt, den ich meinem Refugium näher kam, wurde meine Unruhe größer. Eine schleichende Angst, sodass ich mich fragte   …
    Wie war es Devlins Geisterkind gelungen, meinen Schutzwall zu durchbrechen? Und was sollte ich tun, wenn es wiederkam?
    Als ich zu Hause ankam, lief ich gleich in den Garten. Die Prunkwinden waren in der Hitze verwelkt, und die aufgehende Sonne weckte langsam die Fleißigen Lieschen.
    Ich ging vorbei an den schmalen Beeten mit dunkelrotem Phlox zu der Stelle, wo ich den Totengeist des kleinen Mädchens hatte stehen sehen. Ich weiß nicht, was ich zu finden erwartete. Nichts so Irdisches oder so Menschliches wie Fußabdrücke. Aber etwas war zurückgelassen worden.
    Eingebettet in die weiche Erde lag ein winziger Granatring.
    Ich hätte ihn wahrscheinlich gar nicht gesehen, wenn ich nicht so angestrengt nach einem Beweis für den Geisterbesuch gesucht hätte.
    Der Ring sah aus, als wäre er schon vor sehr langer Zeit hier vergraben worden. Vielleicht war er von den jüngsten Regenfällen hochgeschwemmt worden, so wie die Leiche in Oak Grove. Ich wollte glauben, dass ein früherer Bewohner ihn dort verloren hatte, aber ich konnte nicht umhin, mich an das

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