Totenhauch
sie über mich redeten.
Statt die Straße zu nehmen, was ein Umweg gewesen wäre, fuhr ich über die Abkürzung durch den Wald und geradewegs zum alten Teil des Friedhofs. Das Tor war zugesperrt, doch ich wusste, wo Papa den Ersatzschlüssel aufbewahrte.
Ich betrat das Gelände, schloss das Tor hinter mir und ging dann eine kleine Böschung hinunter, an farngesäumten Gehwegen entlang und durch dichte, silbrig schimmernde Vorhänge aus Lousianamoos zu den Engeln.
Es waren siebenundfünfzig.
Siebenundfünfzig Engel, die siebenundfünfzig winzige Gräber schmückten. Die Opfer eines Brandes, der 1907 ein Waisenhaus zerstört hatte.
Die Einwohner der umliegenden Counties hatten Geld gesammelt, um den ersten Engel zu kaufen, und dann wurde jedes Jahr ein weiterer angeschafft, außer während der beiden Weltkriege und in der Zeit der Weltwirtschaftskrise.
Als der letzte Engel auf das letzte Grab gestellt wurde, waren einige der älteren Statuen schon der Witterung und menschlicher Zerstörungswut zum Opfer gefallen. Papa hatte jahrelange Arbeit hineingesteckt, um mit viel Geduld und altmodischen Steinmetzwerkzeugen alle siebenundfünfzig zu restaurieren.
Als ich noch klein war, waren diese Engel meine einzigen Kameraden gewesen. In der Gegend, in der wir wohnten, gab es keine anderen Kinder, doch ich glaube nicht, dass dieses abgeschiedene Leben schuld war an meiner Einsamkeit. Die war mir angeboren, und als die Geister in mein Leben traten, wurde sie zu meinem ständigen Begleiter.
Die Sonne sank bereits langsam zum Horizont, als ich ein Fleckchen mit warmem Klee fand und mich auf den Boden setzte. Ich schlang die Arme um meine Knie und wartete.
Kurz darauf wurde die Luft ganz still, in einem Vorspiel, das nach Sommer duftete.
Und dann geschah es.
Die Sonne versank mit einem keuchenden Lodern, der letzte Atemzug eines sterbenden Tages, der die Baumspitzen vergoldete und eine Salve glitzernder Pfeile durch die Blätter herunterschoss. Das Licht tanzte auf dem Stein, sodass die Engel für den Bruchteil einer Sekunde mit schimmerndem Leben erfüllt wurden, ein flüchtiges Trugbild, das mir jedes Mal wieder den Atem raubte.
Während die Engel unter der weichen Decke der Dämmerung schliefen, saß ich da und wartete auf Papa. Schließlich stand ich auf und ging zurück zum Tor. Ich sah jemanden draußen stehen und wollte schon rufen.
Doch im nächsten Augenblick stellte ich mit Grauen fest, dass der Mann nicht Papa war. Ich kannte ihn aber. Er war der Geist des alten Mannes, den ich gesehen hatte, als ich neun Jahre alt war. Da ich auf geweihtem Boden stand, war er keine unmittelbare Bedrohung für mich, aber er erschreckte mich trotzdem. Dass er nach all den Jahren plötzlich wieder auftauchte, kam mir bedrohlich vor, wie ein sichtbares Zeichen der Unruhe, die in mein geordnetes kleines Königreich eingebrochen war.
Er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Groß, ausgemergelt, mit langen weißen Haaren, die auf den Kragen seiner Anzugjacke fielen. Ein eisiger Blick und ein leicht unheilvolles Gebaren.
Ich spürte, dass da noch jemand war, und warf einen Blick über die Schulter. Papa war hinter mich getreten. Seine Haare waren ebenfalls weiß, doch sie waren ganz kurz geschnitten, und seine Augen waren matt geworden, seine Haltung war unnahbar, aber überhaupt nicht bedrohlich.
Er schien auf einen Punkt in der Ferne zu schauen, aber ich wusste, dass der Geist seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
»Du siehst ihn auch, oder?«, flüsterte ich und ließ meinen Blick zurück zum Tor gleiten.
»Schau ihn nicht an!«
Sein schroffer Ton ließ mich innerlich zusammenfahren, obwohl ich nach außen hin keine Reaktion zeigte. »Das tu ich doch gar nicht.«
»Komm.« Er fasste mich am Arm und drehte mich in Richtung der Engel. »Setzen wir uns kurz hin.«
Wir ließen uns auf dem Boden nieder und drehten dem Geist den Rücken zu, genauso wie damals, als ich neun war. Langesaßen wir so da, und keiner von uns beiden sagte etwas, doch ich konnte Papas innere Anspannung spüren und etwas, von dem ich dachte, dass es Furcht war. Es wurde dunkel, und ich begann zu frösteln, zog die Beine ganz dicht an den Körper, stützte das Kinn auf die Knie.
»Papa, wer ist der Mann? Was ist er?«, fragte ich schließlich.
Er konnte mir offenbar nicht in die Augen sehen, sondern hielt den Blick starr auf die Engelsstatuen gerichtet. »Ein Bote … ein Kurier. Ich weiß es nicht.«
Mir wurde es innerlich noch kälter.
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