Totenhauch
gar nicht. Den Giftschlangen aber gehörte meine volle Aufmerksamkeit, und das Gleiche galt für die Spinnen. Ich war in höchster Alarmbereitschaft, als ich durch das hohe Unkraut auf die Friedhofspforte zustapfte.
Ein uniformierter Beamter stand am Eingang Wache, und ich nannte ihm meinen Namen. Da ich früh dran war für mein Treffen mit Camille und sie noch nirgends stehen sah, fragte ich nach Devlin.
»Er erwartet mich«, sagte ich zu dem Beamten.
»Sie sind die Friedhofssachverständige, oder? Tor ist offen. Benutzen Sie die Gehwege und halten Sie sich von dem abgesperrten Bereich fern.«
Ich nickte. »Wissen Sie vielleicht, wo ich ihn finden kann?«
»Nein, aber es ist ziemlich ruhig hier. Rufen Sie ihn einfach. Er hört Sie bestimmt.«
Ich bedankte mich bei ihm, trat durch das schwere Eisentor und blieb dahinter erst einmal einen Moment stehen und sah mich um. Ich konnte Devlin nirgends sehen, allerdings auch niemanden sonst, doch ich hatte nicht vor, die Würde des Friedhofs zu verletzen, indem ich nach ihm rief. Papa hatte mir schon frühzeitig beigebracht, dass man sich auf jedem Friedhof so benehmen musste, als wäre man dort zu Gast. Dass man die Toten und den Grund und Boden achten musste. Dass man nichts mitnehmen und nichts zurücklassen durfte.
Ich dachte an den Korb mit Muscheln und Steinen, die ich als Kind auf dem geweihten Boden von Rosehill gesammelt hatte. Ich hatte meinem Vater nie davon erzählt, so wie ich auch überdas Erlebnis mit Devlin in meinem Arbeitszimmer geschwiegen hatte. Papa war nicht der Einzige, der Geheimnisse hatte.
Wolken schoben sich vor die Sonne, und eine willkommene Brise wehte über die Gräber und trug den Klang ferner Stimmen von der Friedhofsmauer herüber, der Stelle, von der ich annahm, dass die Polizei dort ihre Suche konzentrierte. Als ich mich auf einen der moosbewachsenen Steine kniete, um mir die Schürsenkel meiner Stiefel zu binden, hallte zunächst die Stimme einer Frau über den Gehweg, dann der tiefere Klang eines vertrauten Baritons.
Ich hatte keine Ahnung, warum schon der bloße Klang seiner Stimme ein Gefühl der Beklommenheit in mir auslöste. Mein erster Impuls war wegzulaufen, bevor er mich sah. Stattdessen hörte ich nicht auf meine innere Stimme und rührte mich nicht von der Stelle. Später sollte ich an diese Entscheidung zurückdenken und erkennen, dass sie der Wendepunkt in meiner Beziehung zu Devlin war. Und ich sollte schon bald herausfinden, dass sich in diesem Augenblick die Tür, vor der Papa mich gewarnt hatte, ein kleines Stück weiter öffnete.
NEUN
Devlins plötzliches Auftauchen traf mich dermaßen unvorbereitet, dass ich einen Moment brauchte, um Camille Ashbys Stimme zu erkennen, und noch einen Moment, bis mir klar wurde, dass ich hier unter Umständen eine private Unterhaltung belauschte. Doch auch dann machte ich mich nicht sofort bemerkbar, sondern band mir erst einmal in aller Ruhe die Schnürsenkel.
»… muss Familie oder Freunde geben, irgendjemanden, der sie vermisst. Jetzt, wo die Geschichte auf den Titelseiten ist, meldet sich bestimmt einer von ihnen«, sagte Camille.
»Wollen wir’s hoffen.«
Pause. »Egal, wer sie ist, sie darf nicht mit Emerson in Verbindung gebracht werden. Ich nehme an, du weißt, was ich damit meine. Das Letzte, was wir brauchen, ist ein neugieriger Reporter, der versucht, einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Morden herzustellen.«
»Beide Leichen wurden auf demselben Friedhof gefunden«, erwiderte Devlin. »Da muss man mit einem gewissen Maß an Spekulation rechnen.«
Ein leichter Schauer lief mir über den Rücken. Man hatte eine weitere Leiche auf Oak Grove gefunden?
Die Stimmen kamen immer näher. Ich richtete mich auf und machte ein bisschen Lärm auf den Trittsteinen, um die beiden vorzuwarnen. Trotzdem: Als sie um das Grabmal herumgingen, das ihnen bis dahin den Blick auf mich versperrt hatte, blieben sie beide wie angewurzelt stehen.
Ich wusste nicht, warum sie so erschüttert zu sein schienen, mich zu sehen, und auch nicht, warum der Anblick der beiden zusammen mir so unangenehm war. Ich nahm an, dass Letzteres damit zu tun hatte, wie Camille Devlin am Arm berührte, als sie mich auf dem Gehweg stehen sah. Die Vertrautheit dieser Geste traf mich am meisten, denn Devlin hatte immer so unnahbar gewirkt, so unerreichbar – aber für Camille Ashby war er das offensichtlich nicht.
Ich tat so, als würde mir diese Berührung ebenso wenig auffallen wie der Blick, den
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