Totenhaut
»Wann hast du eigentlich gemerkt, dass du schwul bist?«
»Diese olle Kamelle wieder?«
Jon fragte sich, ob er Rick mit dieser Frage beleidigt hatte, doch der schien sich nicht daran zu stören. »Ich hab’s schon immer gewusst. Es ist nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel über mich gekommen, als ich achtzehn war.«
Jon dachte darüber nach. »Wie meinst du das, schon immer? Haben dir schon als kleines Kind Männer besser gefallen?«
Rick spielte mit seinem Glas herum. »Haben dir schon als kleines Kind Frauen besser gefallen?«
»Keine Ahnung. Aber ich weiß noch, wie heiß ich diese Mädchengruppe in der Fernsehhitparade fand, die zu den Liedern tanzte, wenn die Sänger nicht selbst auftraten.«
Rick lachte. »Pan’s People? Also auf mich hat Brian Jackson mehr Eindruck gemacht, als er bei den Superstars des Sports Liegestützen machte. Aber ich war nicht bewusst scharf auf ihn – ich fand ihn nur irgendwie interessanter.«
»Aber wie war’s in der Schule für dich? Auf dem Pausenhof geht’s ja mitunter recht brutal zu.«
»Das war nie ein Problem«, erklärte Rick. »Man sieht mir die Tunte ja nicht schon von weitem an. Und wenn da nicht dieses Mädchen gewesen wäre, hätte wahrscheinlich nie jemand etwas bemerkt.«
»Ein Mädchen, das du hast abblitzen lassen?«
»Darauf läuft’s wahrscheinlich hinaus. Ich hab’s ihr im Vertrauen gesagt, weil ich dachte, wir wären Freunde. Und sie ist losgezogen und hat es ihren Freundinnen erzählt. Bald darauf wussten es auch alle anderen.«
»Und?«
»Einen Typen gab es, der hat versucht, mich deswegen hochzunehmen. Ich hab ihm die Nase blutig geschlagen. Das war der einzige Hieb, den ich je austeilen musste. Denn glücklicherweise saß er bildschön.«
Jon lächelte. »Hört sich so an. Und danach gab’s nie wieder Probleme?«
»Nie wieder.« Rick trank sein Glas leer. »Noch eines?«
Und das war das nächste Vorurteil betreffend schwule Männer, das Jon revidieren musste. »Als du mit dem Gin-Cola angefangen hast, dachte ich, na wunderbar, wie’s im Buche steht.«
»Wie’s im Buche steht?«
»Na, ja«, sagte Jon zögerlich, »ich dachte, das ist ja eher was fürs weibliche Geschlecht. Und dann dachte ich, zwei davon, und er ist komplett hinüber. Aber Ehre, wem Ehre gebührt: Du siehst nüchterner aus als ich.«
Rick grinste. »Überleg mal. Was bringt die Leute mehr als alles andere auf der Welt um ihr Geld, ihre Zeit und ihre Energie und sorgt obendrein noch dafür, dass sie jeden Tag der Woche früh aufstehen müssen?«
Jon runzelte die Stirn. »Keine Ahnung? Kinder?«
Rick stieß mit seinem Glas gegen Jons. »Goldrichtig. Und was würde ein Teil der Bevölkerung tun, wenn er keine elterlichen Pflichten, dafür aber jede Menge Kohle hätte und jedes Wochenende ausschlafen könnte? Diese Leute würden ausgehen und sich amüsieren. Restaurants, Bars, Clubs, tolle Urlaube. Trinken wir auf die Macht des rosa Rubels.«
Jon hatte nur noch ein paar Tropfen Bier im Glas. Die starrte er an, und seine Gedanken wanderten ab zu den frühmorgendlichen Babymahlzeiten, die jetzt nur mehr wenige Wochen auf sich warten ließen.
17
D
ie Leiterin des Frauenhauses umarmte Fiona mit einer Heftigkeit, als könne sie sie dadurch beschützen. »Passen Sie auf sich auf«, bat sie leise und schob den Kopf nach hinten, um Fiona in die Augen sehen zu können. »Und melden Sie sich mal, damit ich weiß, wie’s Ihnen geht.«
Fiona lächelte und dachte an die sechs kostbaren Nächte, die sie in dieser Zufluchtsstätte verbracht hatte. »Haben Sie vielen, vielen Dank, Hazel. Sie waren meine Lebensretterin. Sie sind eine Lebensretterin.« Fiona winkte noch einmal den Frauen auf der Eingangsstufe, dann wandte sie sich ihrem Wagen zu. Ihre Taschen waren sicher im Kofferraum verstaut, und sie stieg ein.
Die Fahrt zu ihrem möblierten Zimmer dauerte nicht einmal eine Viertelstunde. Sie hatte es sich wegen des guten Verkehrsanschlusses zu Melvyns Salon ausgesucht.
Schließlich war der momentan der Hauptinhalt ihres Lebens. Etwas anderes gab es zurzeit nicht.
Sie konnte damit leben, dass so gut wie alle ihre Freundinnen sich durch den kalten und argwöhnischen Empfang, den ihr Ehemann ihnen jedes Mal bereitete, schließlich von weiteren Besuchen hatten abschrecken lassen.
Und die Entschlossenheit, mit der sie abgestritten hatte, dass etwas mit ihrer Ehe nicht stimmte, hatte ein Übriges getan.
Doch der Graben, den sie zwischen sich und ihren Eltern aufgerissen
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