Totenhaut
den Schlüssel unauffällig in einen Spalt zwischen zwei Ziegel im Sockel der Mauer. So hatte sie eine schnelle Fluchtmöglichkeit, sollte sie einmal eine brauchen. Schließlich wusste sie sehr genau, wozu Jeff fähig war, wenn er sie doch aufstöbern und mit ein paar Gläsern intus bei ihr auftauchen sollte.
Der Hausflur war mit unerwünschter Post und ein paar noch in Plastik gehüllten Ausgaben der Gelben Seiten übersät.
Eine Tür ging auf, und ein Mann kam heraus, in den Händen einen Karton mit ausrangierten Küchenutensilien. Er sah aus wie Ende zwanzig, trug aber noch immer Studentenklamotten.
»Morgen. Ziehen Sie gerade ein?«, fragte er aufgekratzt.
»Ja.« Fiona nickte und presste ihre Tasche eng an den Bauch.
»Ich auch.«
Sie lächelte und schaute dabei auf den Karton.
»Kochsachen. Wenn Sie mal welche brauchen, bedienen Sie sich einfach. Im Keller liegt massenhaft Zeug, das die Leute dagelassen haben.«
Fiona sah zu der Tür, aus der er gerade gekommen war.
»Danke.«
»Sind Sie eine von den fortgeschrittenen Studentinnen?«
Fiona spürte, wie sie ein wenig rot wurde. »Nein. Ich bin, ich bin … nur im Moment dabei, mich neu zu orientieren.«
Sein Lächeln verblasste, als er ihre Antwort abwog und sein Blick zu ihrer Augenbraue glitt. »Verzeihung. Ich wollte nicht neugierig sein.«
»Nein, keine Ursache. Und Sie? Sind Sie einer? Ein Student, meine ich.«
»Ja, ich mache gerade meinen Magister.«
»In welchem Fach?«
Jetzt war die Reihe an ihm, verlegen zu werden. »Klassische Philologie. Latein, Griechisch. Fragen Sie mich nicht, warum. Eigentlich war’s die Idee meiner Mutter, glaube ich. Sie will, dass ich Journalist werde.«
Fiona lächelte. »Na, ich richte mich jetzt lieber mal ein, äh …?« Sie hob fragend die Augenbrauen.
»Oh, ich heiße Raymond. Raymond Waite.«
»Nett, Sie kennenzulernen, Raymond. Ich bin Fiona.«
Als er die Treppe hochstieg, registrierte sie belustigt seine klobigen Sportschuhe mit den Plexiglasfensterchen in den dicken Sohlen.
Dann öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer und sah sich um, fest entschlossen, sich von seinem unansehnlichen Interieur nicht abschrecken zu lassen. Es war ihres, das war die Hauptsache. Ein weiterer kleiner Schritt auf dem Weg in die Freiheit.
Sie blieb stehen und schnupperte. Der moderige Geruch, der ihr schon bei ihrem ersten Besuch aufgefallen war, hing noch immer in der Luft, obwohl das Fenster offen stand. Sie brachte ihren Koffer herein und konnte den Blick nicht davon abwenden. Es war der Gedanke an die Flasche Gin, die sich darin befand. Sie rang die Versuchung nieder, sich einen Schluck zu gönnen, nur einen kleinen, und nahm stattdessen ihre Handtasche. Raumdeo, Bleiche und Scheuermilch war, was sie wirklich brauchte. Die nackte Matratze auf dem Einzelbett war voller Flecken. Mit einiger Mühe stemmte sie sie hoch, nur um festzustellen, dass die Unterseite noch schlimmer aussah.
Als sie das Zimmer verließ, fügte sie ihrer Liste eine Bettdecke, Bettwäsche, Handtücher und eine neue Matratze hinzu. Dass das Geld, das Melvyn ihr gegeben hatte, rasch zur Neige gehen würde, war ihr nur zu klar.
Eine Weile später kam sie zurück, brachte die kleineren Dinge in ihr Zimmer und ging dann noch einmal zum Auto, um die neue Matratze herauszuziehen, die sie mit umgeklapptem Rücksitz im Fond und Kofferraum des Wagens transportiert hatte.
Im ersten Stock ging ein Fenster auf. Erst hörte sie nur Hip-Hop-Musik, dann eine Stimme, die fragte: »Brauchen Sie Hilfe, Fiona?«
Sie blickte auf und sah, dass Raymond sich aus dem Fenster beugte. »Würde es Ihnen etwas ausmachen?«
»Aber nein.«
Ein paar Sekunden später kam er um die Ecke geschlurft und bückte sich, um die Schnürsenkel seiner lächerlichen Schuhe zu binden. Die überdimensionalen Zungen, die oben heraushingen, erinnerten sie an ein Paar durstige Spaniels.
Sie trugen die Matratze in ihr Zimmer und stellten sie neben das Bett.
»Ich weiß nicht, was ich mit der alten tun soll – die ist ekelhaft«, sagte Fiona.
»Ja, ich sehe, was Sie meinen«, antwortet Raymond. »Warum werfen wir sie nicht in den Keller? Wie’s aussieht, machen das alle hier mit den Sachen, die sie nicht mehr brauchen können.«
»Meinen Sie, das geht?«
»Aber sicher. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«
Sie wuchteten die Matratze hoch und schleppten sie hinaus in den Flur. Raymond trat die Kellertür auf, dann gab er der Matratze einen Stoß, dass sie die kurze Treppe hinunterrutschte
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