Totenhaut
Alice setzte sich vorsichtig auf die Kante eines Hockers und hielt ihren Bauch in ihren Händen wie in einer Wiege.
»Fiona hat gerade erzählt, dass sie jetzt in ihrer eigenen Wohnung wohnt«, verkündete Melvyn.
»Und wo ist die?«, fragte Alice.
Fiona holte Papier und Stift aus ihrer Handtasche. »Ridley Close fünfzehn, Wohnung Nummer zwei. Drüben in Fallowfield.« Sie reichte Alice den Zettel. »Ihr seid herzlich eingeladen, mich zu besuchen, aber die Adresse muss geheim bleiben. Er hat keine Ahnung, wo ich bin.«
Wieder sah Fiona den besorgten Ausdruck in Melvyns Gesicht. »Was ist los?«, fragte sie.
»Nichts«, meinte er und zuckte leicht mit den Achseln.
Fiona wandte sich an Alice, doch die sah Melvyn an. Da richtete auch Fiona ihren Blick wieder auf Melvyn. »Er war hier, stimmt’s?«
Melvyn sagte nichts.
»Dieses Arschloch«, zischte Fiona. Angst und Wut waren gleichzeitig hochgeflammt. »Was hat er gesagt? Was hat er gemacht? Hat er dich bedroht? Er hat, gib’s zu.«
Melvyn lächelte sie kurz an. »Nicht mehr, als eine spektakuläre Tunte wie ich ohnehin gewohnt ist. Mach dir keine Sorgen, ihm ist sowieso bald die Luft ausgegangen. Besonders, als ich ihm eine Kusshand zugeworfen habe.«
Fiona zog mit vorgehaltener Hand den Atem ein. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Das war ein bisschen zu viel«, ergänzte Alice. »Ich dachte, ihm platzen jeden Moment die Halsadern.«
Übelkeit überfiel Fiona. »Es tut mir ja so leid.« Sie warf einen hastigen Blick zur Fensterfront des Salons. Konnte man sie von draußen sehen? »Was ist, wenn er wiederkommt?« Jetzt hatte sie richtig Angst.
»Deshalb ist es wahrscheinlich am besten, wenn du dich eine Weile von hier fernhältst«, schlug Melvyn vor. »Ich habe ihm gesagt, dass du nicht mehr hier arbeitest. Er wird bald aufgeben.«
Alice ging an die Empfangstheke und steckte Fionas Adresse hinten in den Terminplaner.
»Danke, Melvyn, damit hast du mir einen riesigen Gefallen getan«, versicherte Fiona, nun schon ein weniger ruhiger.
Melvyn rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Es ist nur so, Fiona, dein Urlaubsgeld kann ich dir auszahlen … Aber du weißt ja, wie’s bei uns funktioniert. Wenn du keine Behandlungen machst …«
»Möchtest du, dass ich gehe? Dass ich mir anderswo eine Stelle suche?« Ihr wurde noch übler.
»Aber nein!« Melvyn protestierte mit einem dramatischen Fuchteln seiner Hände. »Du gehörst doch zum Team. Das habe ich nicht gemeint. Aber wie wirst du’s mit dem Geld machen? Ich meine, ich könnte dir was leihen …«
Trotzig schüttelte Fiona den Kopf. Unter keinen Umständen würde sie sich von der Mildtätigkeit ihrer Freunde abhängig machen. »Im Moment brauche ich nichts. Ich bin schon froh, dass du bereit bist, mir unbezahlten Urlaub zu geben.«
Sie hörten alle, wie die Eingangstür aufging, und Fiona zuckte zusammen. »Ist er das?«, flüsterte sie. Sie wusste, dass sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war.
Alice spähte um die Ecke. »Hi, Zoe. Schokohaferkekse? Gute Wahl!«
Als Fiona schließlich mit dem Staubsauger im Kofferraum zu ihrem neuen Zuhause fuhr, plagte sie das schlechte Gewissen. Sie hatte so vielen Leuten Ärger bereitet.
Dawn Poole tauchte in ihrem Kopf auf. Noch jemand, bei dem sie sich entschuldigen musste. Insbesondere, weil sie Alices Freund hingeschickt hatte, damit er ihr Fragen stellte.
Am Ende der Straße schlug sie den Weg zur A57 ein. Sie hatte beschlossen, die Sache im Platinum Inn sofort zu bereinigen. Als sie kurze Zeit darauf auf den Parkplatz einbog, konnte sie sich nicht entscheiden, wo sie parken sollte, so leer war er. Sie fuhr im Schritttempo weiter und wählte schließlich einen Platz am hinteren Ende, so weit wie möglich entfernt von dem silbernen Volvo des Tagmanagers, nahe der Lücke in der Hecke, durch sie sich vor einer Woche gezwängt hatte.
Wie aussichtslos ihr das Leben an jenem Abend erschienen war. Nicht, dass es jetzt um so vieles besser wäre. Sie dachte an das enge Zimmer, das jetzt ihr Zuhause war.
Ihr Geld war fast aufgebraucht, und sie hatte keine Ahnung, wovon sie die Miete für den nächsten Monat bezahlen sollte.
Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Mann, und sie stellte ihn sich in schöneren Augenblicken vor. Wie er über irgendetwas im Radio lachte, sich vor Vergnügen die Hände rieb, wenn seine Fußballmannschaft ein Tor schoss.
Sie hätte gerne gewusst, was er gerade tat, wie er ohne sie zurechtkam. Er verbrachte so viel Zeit im Büro,
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