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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
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starrt durch mich hindurch auf die Ruine seiner Zukunft. Neben ihm auf dem Boden liegen die Finger seiner rechten Hand. Seine Ohren. Seine Zunge. Und groteskerweise auch sein Hodensack, der an die Brocken erinnert, die die Metzger immer ihren Hunden zuwerfen. Blut fließt zwischen seinen Beinen, aus seinem Mund, seinem Arm und einer Kopfwunde. Er lebt noch, doch der Blutverlust könnte dazu führen, dass er bald das Zeitliche segnet.
    Er tut mir nicht leid. Stattdessen wird die kalte Wut in mir immer größer, weil sie jetzt ihrem Ziel genau gegenübersteht. Es sind starke Gefühle, aber es sind auch meine Gefühle – und es sind menschliche Gefühle. Sie gehören mir, und ich habe keine Angst davor.
    Ich sage gar nichts. Ich helfe ihm auch nicht. Er ist mir völlig egal.
    Ich steige vorsichtig um die Blutpfützen herum, damit ich keine Fußabdrücke hinterlasse. Dann habe ich die Kellertreppe erreicht.
    Inzwischen halte ich die Pistole mit beiden Händen umklammert. Sie ist ein Teil von mir. Ein Instinkt. Eine Einheit. Ich bin Lev, und mein Name ist Rache. Ich weiß, dass das, was vor mir liegt, noch viel schlimmer sein wird als das Blutbad oben. Ich trete die Tür auf und richte die Waffe in den Raum.
    Ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe.

44
    Was ich finde, ist namenloser Schrecken. Unbeschreiblicher Schrecken. Selbst als ich noch dabei bin, den Raum durch das Visier der Waffe abzusuchen, weiß ich, dass mich dieser Schrecken bis ins Grab verfolgen wird. Vielleicht wird der nagende Zahn der Zeit diesen Augenblick irgendwann verschwimmen lassen. Aber was hier geschehen ist, kann niemals wiedergutgemacht werden. Kann nie ungeschehen gemacht werden.
    Ich sehe vier Frauen. Sie sind nackt bis auf lange, ehemals weiße und jetzt schmutzige T-Shirts. Jede Frau ist mit den Handgelenken an einen der vielen in die Wand eingelassenen Eisenringe gekettet. Der Boden ist mit Stroh bedeckt. Viel Stroh, wie in einem Kuhstall. In der Ecke dampft ein Eimer voll mit Scheiße und Pisse unter einem kleinen Fenster. Die Frauen sind schmutzig. Ihr stinkendes Haar ist verfilzt. Sie sind viel zu dünn und mit blauen Flecken übersät. Sie starren ins Leere wie Menschen, die jenseits des Schocks und noch dazu mit Heroin vollgepumpt sind. Es sind insgesamt zehn Eisenringe. Sechs davon sind unbesetzt.
    Nachdem ich das alles gesehen habe, übergebe ich mich in einer Bewegung, die so natürlich und spontan ist wie Luftholen, auf das Stroh vor meinen Füßen. Ein einziges reflexhaftes Würgen. Nur ein Würgen. Nun macht die Zeit einen weiteren Quantensprung. Der Würgereflex ist bereits Vergangenheit.
    So soll es also laufen, ja? Ich muss mich nicht nur mit Fletcher, sondern auch mit Sikorskys Komplizen anlegen. Na gut. Scheiß auf sie, scheiß auf sie alle. So soll es sein. Ich bin bereit. Ich hoffe nur, dass Roberts’ beschissenes kleines Boot leer ist. Wenn nicht, dann werde ich es mir nie verzeihen können, dass ich zu spät gekommen bin.
    Jetzt bin ich in der Situation – der glücklichen Situation –, dass meine Instinkte schneller und besser reagieren als mein Gehirn.
    Ohne nachzudenken, lege ich einen Finger auf die Lippen, damit die Frauen – ich bezweifle, dass sie mehr als ein paar Brocken Englisch können – keine Geräusche machen. Dann reiße ich mir so schnell wie möglich die Kleider vom Leib und werfe sie hinter die Kellertür, sodass man sie vom Eingang aus nicht sehen kann. Auf einem Stapel grauer Armeedecken liegen noch mehr weiße T-Shirts. Ich ziehe eines davon über. Es ist ein schreckliches Gefühl. Es macht einen Sklaven aus mir. Doch Sklaven sind unsichtbar, und das kommt mir gerade recht.
    Dann durchsuche ich meine eigenen Klamotten nach der Reservemunition in der Jackentasche. Die Stiefel sollte ich besser wieder anziehen. Immerhin habe ich nur zehn Kugeln im Magazin, und wenn es zu einem Handgemenge kommt, kann ich mit den Stiefeln an den Füßen besser gegen Kniescheiben, Luftröhren und in Hodensäcke treten.
    Ich gehe in die gegenüberliegende Ecke des Raums. Mitten an der Decke hängt eine einsame Glühbirne, deren Licht jedoch kaum bis in die Ecke reicht. Ich lege mich hin und verstecke meine Stiefel unter einer Decke.
    Noch einmal mache ich den Frauen mit einer Handbewegung klar, um Gottes willen still zu sein. Zwei haben angefangen, schnell miteinander in einer Sprache zu reden, die möglicherweise Rumänisch sein könnte. Sie hören erst auf, als ich mit der Waffe auf ihre Köpfe ziele.

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