Totenklage
fünf sitze ich im Auto. Später soll es regnen – behauptet zumindest der Wetterbericht –, aber noch ist es ein heller, strahlender Tag. Als wäre die Welt bereit zur Morgeninspektion. Die Schatten auf den Straßen und Gehwegen sind gestochen scharf, die Rasen gemäht, die Autos stehen in Reih und Glied. Außer mir bewegt sich gar nichts.
Im Nu habe ich Cardiff hinter mir gelassen und rase westwärts, die Sonne im Rücken. Amy Winehouse im CD -Player, Energieriegel, Handschellen, Pistole, Munition und das Handy auf dem Beifahrersitz. Ich folge dem Schatten des Peugeot auf dem Asphalt, versuche, gegen die Erdrotation anzufahren.
Cardiff. Bridgend. Porthcawl. Port Talbot. Swansea.
Jetzt bin ich an der Abzweigung zur Gower-Halbinsel, wo Brydon und ich den Ausflug zum Strand gemacht haben. Das schläfrige glitzernde Meer liegt zu meiner Linken und beobachtet mich nicht sonderlich beeindruckt.
Hinter Swansea hört die Autobahn auf.
Pontardulais. Llanddarog. Carmarthen.
Das ist das echte, tiefste Wales. Das alte Wales. Nicht dieses hässliche viktorianische Konstrukt aus Kohle und Eisen und Häfen und Fabriken. Dies ist das Wales der Kelten. Das Wales des Widerstands. Gegen die Normannen, die Wikinger, die Sachsen, die Römer. Widerstand gegen die Invasoren – ein Jahrhunderte überdauernder Stinkefinger. Hier sprechen die Leute Walisisch, weil sie immer schon Walisisch gesprochen haben. Englisch reden hier nur die Ausländer.
St Clears. Llanddewi Brefi. Haverfordwest.
Auf der Strecke von Haverfordwest nach Walwyn’s Castle fahre ich langsamer. Ich kenne die Straßen nicht, und manchmal stehen Kühe darauf. Sie wurden gerade gemolken und sind auf dem Weg zur Weide. Ein Knecht mit einem Haselstecken und einem Collie an der Seite geht hinter ihnen her, treibt die Kühe zur Weide und hebt grüßend die Hand, als ich an ihm vorbeifahre. Ich winke zurück.
Nach Walwyn’s Castle kommt Hasguard Cross. Dahinter hört die Halbinsel auf. Zu allen Seiten ist das Meer. Nur in meinem Rücken nicht, aber da will ich so schnell auch nicht wieder hin. St Brides liegt zu meiner Rechten, St Ishmael zu meiner Linken. Und direkt vor mir muss das Ziel meiner Reise sein. Ein Niemandsort im Niemandsland. Ein alter Leuchtturm, der schon lange nicht mehr leuchtet oder Schiffen den Weg weist.
Es ist nicht nur ein alter Leuchtturm – laut Internet ist es der alte Leuchtturm. Er ist weiß. Das wusste ich schon, von Fotos vom Pembroke-Küstenweg, die auf Flickr eingestellt sind. Der Turm ist weiß und liegt am Meer. Westlich von Milford Haven. Martyn Roberts’ Boot war in Milford Haven gemeldet, und diese weit westlich gelegene Landzunge ist im Gegensatz zum stärker bewohnten Osten von Wales so gut wie verlassen und nur schwer zu finden. Noch bin ich mir nicht völlig sicher, aber alle Hinweise deuten in dieselbe Richtung.
Ich bin jetzt weiter von Cardiff entfernt als Cardiff vom Westrand Londons. Die Spitze der Unendlichkeit, der Rand des Vergessens.
Es ist Viertel nach sieben. Ich bin bereit.
43
Ich stelle den Wagen etwa eine Meile vom Leuchtturm entfernt ab. Der Straßenrand ist so dicht mit großen Wiesenkleedolden bewachsen, dass ich erst eine Schneise fahren muss, bevor ich parken kann. So viele schöne weiße abgeschlagene Köpfe. Die Luft über der Motorhaube flimmert in der zunehmenden Hitze. Möwen kreisen über mir. Das Meer kichert angesichts meiner Überheblichkeit.
Pistole. Handy. Handschellen. Reservemunition. Das ist alles. Mit etwas Glück brauche ich nur die Handschellen und das Handy. Erleichtert stelle ich fest, dass ich vollen Empfang habe.
Langsam gehe ich durch die Felder auf den Leuchtturm zu. Ich orientiere mich allein nach meinem Gefühl. Das ist nicht schwer. Ich gehe auf das Meer zu, und das Meer ist hier überall in der Nähe. Ich durchquere ein paar Weizenfelder, deren Ähren sich allmählich golden färben. Seeluft. Ginster, der grell in den Hecken blüht. Dann eine Schafweide, von der aus ich den Leuchtturm sehen kann.
Er ist kleiner, als ich ihn mir vorgestellt habe. Ein mickriger, winziger verlassener Turm. Dahinter ein niedriges fassförmiges Gebäude. Ein halbes Dutzend Steinstufen führen zu einer Tür. Ich kann zwei Fenster erkennen, vielleicht gibt es noch mehr. Auf einem staubigen Parkplatz steht ein einsamer Land Rover. Das Grundstück ist von einem Stacheldrahtzaun umgeben und mit einem verschlossenen Tor gesichert, was aber kein unüberwindliches Hindernis darstellt. Eher eine
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