Totenklage
kleinen Details ab, doch ich würde mein Leben darauf verwetten, dass ich ihn gerade in groben Zügen richtig geschildert habe. Und so wie es aussieht, werden die kleinen Details sowieso nicht ans Licht kommen. Tun sie ja nie.
Allerdings hätte ich nicht mit so einem Ausgang der Geschichte gerechnet. Wer hätte gedacht, dass die Kaliningrad-Gang ihre Säuberungsaktion bis an diesen gottverlassenen Ort hier ausdehnen würde? Das hatte ich nicht vorausgesehen – ich hatte angenommen, dass der Zwerg Fletcher mein einziger Gegner sein würde.
Ziemlich bescheuert, ja. Aber man lernt ja nie aus, wie meine Oma sagen würde. Nun ja, in diesem Fall könnte es sich unter Umständen schnell ausgelernt haben. Aber es gibt Schlimmeres als den Tod, wer wüsste das besser als ich?
Ich vergrabe mich noch tiefer im Stroh. Die spitzen Halme bohren sich durch das T-Shirt in meine Brüste, meinen Bauch, meine Oberschenkel. Man kann nicht lange so leben, ohne alle Menschlichkeit zu verlieren. Nicht, wenn man gehalten wird wie ein Tier, damit ein Haufen reicher Männer einen vergewaltigen und verprügeln und schließlich ins Meer werfen können, wenn sie mit einem fertig sind. Wenn man so lebt und stirbt, ist es schwer, Mensch zu bleiben.
Jetzt ist alles ruhig. Die beiden Rumäninnen haben aufgehört zu plappern.
Hier drin sind die Schreie der Möwen nicht zu hören. Nur das Rascheln des Strohs, und, wenn das nicht nur Einbildung ist, auch das Tropfen von Fletchers Blut im Erdgeschoss.
Ich muss an die schwarzweißen Zielscheiben auf dem Schießstand denken. Schwarz für einen geglückten Brusttreffer. Weiß für einen Treffer in Arme oder Kopf. Ich stelle mir meine Ziele vor. Das schwarze Zentrum. Ich denke daran, wie oft ich in dieser Nacht in Llangattock ins Schwarze getroffen habe – auf längere Distanz und unter schlechteren Lichtverhältnissen.
Und wieder bin ich bereit. Ich bin völlig ruhig und mehr als bereit.
45
Es dauert länger als gedacht. Länger, als es mir lieb ist. Vielleicht hat sich aber auch meine Zeitwahrnehmung verschoben. Vielleicht fahren die Russen noch auf die See hinaus, bevor sie zurückkommen. Oder sie machen ganz profan einen Halt, um etwas zu essen oder Tee zu trinken. Fletchers Körperteile abzuschneiden und die Frauen auf Roberts’ kleines Boot zu laden ist schließlich anstrengende Arbeit. Da werden die Sportsfreunde sicher Lust auf schwarzen Tee und Marmeladebrote gekriegt haben.
Ich schätze, dass etwa eine Stunde vergeht, bis ich Schritte von Stiefeln auf den Stufen höre. Dann öffnet sich die Tür. Stimmen.
Stimmen und Gelächter. Ich kann zwar nichts verstehen, aber ich vermute, dass sie mit Fletcher reden. Ihn auslachen.
Zumindest hoffe ich das. Ich hoffe, dass Fletcher noch lebt. Ich will, dass er den Rest eines sehr langen Lebens stumm und verstümmelt hinter Gittern verbringt. Er hat keine Gnade verdient.
Dann kommen die Stiefel und Stimmen die Kellertreppe hinunter.
Mein Herz schlägt so schnell wie zuvor. Diesmal gibt es keine Trennung zwischen mir und meinen Gefühlen. Endlich, endlich fühle ich mich lebendig, fühle ich mich, wie sich ein Mensch fühlen sollte. So verrückt es auch klingt – ich habe meinen Frieden gefunden. Ich bin eins mit mir selbst.
Sie unterhalten sich, während sie die Treppe hinuntersteigen. Steinstufen, Steinwände zu beiden Seiten, ein Keller aus Stein. Die Stimmen hallen durch den Raum. Schwer einzuschätzen, wie weit sie noch entfernt sind.
Ich presse mein Gesicht auf das Stroh. Für diese Männer ist eine weitere Sklavin nur der Hinweis darauf, dass sie sich verzählt haben. Irgendwann wird mich mein Punkrock-Make-up verraten, aber da ich diesen Moment so lange wie möglich hinauszögern will, versuche ich, mich nach Möglichkeit zu verbergen.
Doch das ist nur ein Vorwand, um mir noch eine Sekunde mehr Zeit zu verschaffen. Da mache ich mir keinen Vorwurf. Ich bin ja nicht Lev. Ich mache so was zum ersten Mal, da kann noch nicht alles perfekt sein.
Wahrscheinlich sind sie zu zweit. Die zwei Männer, die ich gesehen habe, wie sie eine Frau auf Roberts’ Boot brachten, und die jetzt zurückkommen, um die nächste zu holen.
Ich warte, bis beide Männer den Keller betreten haben. Wenn sie bereits bemerkt haben, dass plötzlich eine weitere Frau im Raum ist, dann lassen sie sich nichts anmerken. Der vordere Mann trägt eine Lederjacke über einem weißen T-Shirt. Der hintere ist etwas kleiner. Ich kann ihn nur undeutlich erkennen. Es sind
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