Totenklage
ein körperliches als ein geistiges Unbehagen. Als hätten sich auch meine Gelassenheit, mein Selbstvertrauen irgendwie verschoben. Ich muss immer wieder daran denken. Nicht an den Schlag selbst, sondern an den Zustand, in dem ich mich unmittelbar danach befand. Eine Stoffpuppe, die jemand achtlos auf die unterste Treppenstufe geworfen hat.
Kein schöner Zustand.
Kein schöner Zustand, wenn die dritte Vernehmung des Tages – die anderen beiden waren langweilig und wenig ergiebig – damit anfängt, dass sich eine Tür öffnet und uns ein blasses Gesicht aus der Dunkelheit dahinter entgegenstarrt. Ein blasses, verängstigtes Gesicht.
Ioana Balcescu. Eine Prostituierte.
Soweit wir wissen, hat sie keine Verbindung zu Janet Mancini oder Stacey Edwards. Oder zum organisierten Verbrechen. Wir haben ihren Namen aus den Aufzeichnungen, die die Sittenpolizei routinemäßig anlegt. Sie trägt Leggings und ein weites Baumwolltop. Langes schwarzes Haar, das augenscheinlich weder frisiert noch gekämmt ist. Ein schmales, nicht unattraktives Gesicht. Aber es sind nicht ihre Nase oder ihre vollen Lippen, die unsere Aufmerksamkeit erregen, sondern die dunkellila Blutergüsse um ihre Augen. Die aufgeplatzte Lippe und der geschwollene Kiefer. Dass ein Arm den anderen wie in einer Schlinge hält. Dass sie vorsichtig einen schmerzhaften Schritt nach dem anderen macht.
Ich ertappe mich dabei, wie ich sie schockiert anstarre. Als würde ich in einen Spiegel blicken. Ich fühle mich ertappt und rechne jeden Moment damit, dass sich Jane zu mir umdreht, mich genau ansieht und dann » Ich wusste es doch – das war nicht der Zahnarzt« sagt.
Was sie natürlich nicht tut. Der Schock geht vorbei. Balcescu will nicht mit uns reden, aber sie bringt auch nicht die Kraft auf, uns von ihrer Haustür zu vertreiben. Wir gehen durch den Flur in einen Raum, der eine Mischung aus einem schäbigen Wohnzimmer und dem Boudoir eines Flittchens darstellt. Neben einer roten Lampe hängt das große, ungerahmte Poster einer barbusigen Frau mit geöffneten Lippen und halb geschlossenen Augen, die an ihrem Bikinihöschen zerrt, als würde es in Flammen stehen. Daneben hängen noch weitere Bilder, die etwas kleiner, aber dafür expliziter sind. Des Weiteren gebrauchte Weingläser, eine Fernsehzeitung, eine Gasrechnung und ein tragbares Fernsehgerät.
Jane Alexander sitzt so spitz auf der Sofakante, als würde sie sich auf der Stelle in eine drogensüchtige Prostituierte verwandeln, sobald sie sich zurücklehnt. Sie trägt die Sorte von Kleidung, die sie immer trägt. Um Längen zu elegant für ihre momentane Umgebung. Obwohl sie viel zu professionell ist, um sich vor Balcescu eine Blöße zu geben, kann ich doch genau erkennen, dass sie sich nicht wohl fühlt. Als wäre sie dieser Sache nicht gewachsen. Sie erklärt, warum wir hier sind, und ihre Stimme klingt extrem förmlich, gepresst und unentspannt.
Ich komme ihr zu Hilfe.
» Ioana, wir sind schon den ganzen Nachmittag auf den Beinen. Dürften wir Sie wohl um eine Tasse Tee bitten? Das wäre sehr aufmerksam.« Mir ist schon früher aufgefallen, dass so ziemlich alle Frauen, die aus dem Balkan kommen, Angst vor der Polizei haben. Sie erwarten nicht von uns, dass wir sie beschützen. Sie gehen davon aus, dass wir sie entweder einsperren, zusammenschlagen oder erpressen wollen. Das kann bei einer Vernehmung hilfreich sein oder nicht. Es hängt ganz davon ab, wie man die ganze Sache angeht. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir das hier sachte, sehr sachte angehen müssen. » Zeigen Sie mir doch, wo der Tee ist, dann machen wir das gemeinsam.«
Ioana führt mich in die Küche. Jane bleibt, wo sie ist. An ihrer Stelle würde ich sofort anfangen, den Raum zu durchsuchen. Jane wird nichts dergleichen tun.
Ioana bleibt vor der Küchentür stehen. Ich gehe hinein, fülle den Teekessel – ein altmodisches Metallding – und stelle ihn auf den Herd. Dann suche ich drei Tassen zusammen, spüle sie ab, entdecke die Teebeutel und mache Tee. Kräutertee ist nicht dabei, aber hier geht es ja nicht um den Tee, sondern darum, Vertrauen zu Ioana aufzubauen.
Ich hebe die Hand und berühre sanft ihr Auge. » Sie Arme. Das sieht ja schrecklich aus.«
Sie will ihren Kopf zur Seite drehen, und ich übe sanften Druck aus. Dann lege ich meine Hand auf ihre Seite, und sie zuckt zusammen.
» Die haben sie ordentlich vermöbelt, oder?«
Keine Antwort.
Ganz sachte hebe ich ihr Top. Überall auf ihrem Körper sind blaue
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