Totenklage
ihre Zwecke missbrauchen. Ich wusste gar nicht, was ich da überhaupt getan habe. Bei der Polizei kann ich meine Fähigkeiten genauso gut einsetzen und weiß jeden Tag, warum.« Aus dem Mund eines anderen würde sich das wie selbstgerechter Quatsch anhören, bei ihm hingegen klingt es tatsächlich wie die reine Wahrheit – bei ihm hört sich alles so einfach an. Das bewundere ich.
» Und was ist mit dir?«, fragt er dann. » Warum bist du zur Polizei gegangen?«
Ich lache.
» Wenn ich dir das sage, wirst du mich für völlig verrückt halten.«
Er erwartet nun, dass ich es ihm tatsächlich sage, aber das tue ich nicht. Wenn man wirklich verrückt ist, so wie ich – oder es zumindest war –, dann ist man sehr vorsichtig, was man sagt, und gibt nichts preis. Der Grund hat übrigens mit einer Menge Wenns zu tun. Wenn Rattigan. Wenn Mancini. Wenn Fletcher. Wenn Penry. Wenn die arme Stacey Edwards. Eine Million Wenns, die nur darauf warten, von mir gelöst zu werden.
Brydon sieht mich mit seinen großen, ernsten Augen an.
» Aber das tue ich doch sowieso«, sagt er.
Ich erzähle es ihm trotzdem nicht. Aber er hat sich ein weiteres Lächeln verdient.
Es ist erst Viertel vor elf, als wir das Restaurant verlassen. Brydon lässt sich nach typischer Männerart alle Optionen offen. Wir könnten jetzt zu ihm fahren und acht Stunden ungezügelten Sex haben. Oder ich gebe ihm einen scheuen Kuss und die vage Versprechung, das bald mal zu wiederholen. Er überlässt mir die Entscheidung. Schlechte Idee. Ich bleibe nämlich üblicherweise auf der sicheren Seite.
Was würde der Dating-Leitfaden wohl raten? Soweit ich weiß, lautet die Faustregel folgendermaßen: schlechtes Date – höfliche Verabschiedung; gutes Date – ein freundlicher Kuss.
Meiner Ansicht nach war es ein gutes Date. Der Anfang war etwas holprig, aber das kann ja mal vorkommen. Danach war es sehr schön. Das sieht Brydon genauso, glaube ich. Ich zögere so lange im Eingangsbereich des Restaurants, dass es schon fast lächerlich wirkt.
» Darf ich dich zu deinem Auto begleiten?«, fragt Brydon. Er lächelt mich an. Nein, eigentlich lacht er mich aus, allerdings auf nette Art.
Er begleitet mich. Eine warme Nacht, leere Straßen. Am Himmel hängt noch eine letzte Ahnung von Tageslicht. Ich bin etwas benommen, doch das ist nicht schlimm. Ich spüre meine Füße, wenn sie die Straße berühren, und mit meinem Herzen ist auch alles in Ordnung, wenn ich es auch nur in gewisser Entfernung spüre. Trotzdem bin ich so durcheinander, dass ich auf der Cathedral Road fast mitten in den Verkehr gelaufen und von einer ganzen Reihe sich schnell bewegender Metallgefährte plattgefahren worden wäre. Brydon packt mich mit erstaunlicher Geschicklichkeit und dreht mich herum, damit ich auf dem Gehweg bleibe und nicht überfahren werde. Mit ebenso großer Geschicklichkeit behält er den Arm auf meiner Schulter, als wir weiter die Straße hinuntergehen. Jetzt ist es eine schöne Benommenheit, weil ich seine Hand auf meinem nackten Arm spüren kann.
Das Leitfaden-Mädchen ist überrascht. Es wurde überrumpelt, doch es freut sich darüber. Mir gefällt das Gewicht seines Arms auf meiner Schulter. Ich kann nicht glauben, dass das gerade passiert, aber es gefällt mir.
Wir gehen ein paar hundert Meter am Auto vorbei, da ich nichts gesagt habe, als wir direkt dran vorbeimarschiert sind. Dann fragt er, wo mein Auto steht, und wir kehren um. Mich interessieren nur der Arm auf meiner Schulter und der dunkler werdende violette Himmel.
Als wir den Wagen erreichen, kann ich mich nicht länger vor der Entscheidung drücken, doch das ist okay. Ich habe mich entschieden. Ich drehe mich mit dem Rücken zum Auto, damit ich mich anlehnen kann, und sehe zu Brydon auf. Er ist ein guter Detective Sergeant. Seine Kenntnis des Leitfadens für männliche Date-Teilnehmer ist geradezu beängstigend. Er legt eine Hand auf meinen Rücken und schiebt mich vor, um mir einen Kuss zu geben. Ein ziemlich guter Kuss. Einen Augenblick lang schaltet mein Kopf ab, und meine Gefühle übernehmen das Kommando. Irgendetwas in meinem Bauch flattert.
Mach halblang, Griffiths. Immer mit der Ruhe.
Es ist eine riskante Situation. Meine Psychiater waren immer schwer begeistert, wenn ich natürliche, unkomplizierte, gewöhnliche menschliche Gefühle zeigte. Da konnten sie einen dicken fetten Haken auf ihre Bewertungsbögen setzen und danach bei einem Instantkaffee auf der achtzehnten jährlichen
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