Totenklang
Susannes wie Musik an mein Ohr und beendet damit meine Kino-Privatvorstellung, der Abspann läuft, es werden bereits die Requisiteure genannt, das Licht geht an, man erhebt sich aus den Sesseln. Ich schwinge meine Knochen aus dem Bett und wasche mir kalt die Nacht aus dem Gesicht, in das sich gleich erfrischend eine Tasse heißer Kaffee und vielleicht eine Scheibe Toast mit Erdnusscreme und Himbeermarmelade drücken wird. Das Frühstück fällt knapp aus, denn ich habe nicht ausreichend Zeit, wie mir nach einem Blick auf die Uhr bewusst wird. Um acht soll ich die Blumen besprengen. Jetzt ist es viertel vor. Ich werde heizen müssen. Willstn-paar-aufs-Maul-Mario hatte mich um 10 Uhr zu sich bestellt. Das wird eine Gondelei heute morgen.
17
Zum Glück ist um diese Zeit nicht viel los auf den Straßen und ich komme fast pünktlich zur Friedhofskapelle. Keine Menschenseele da, totenstill. Die Tür zur Halle ist offen. Das Licht reicht aus, um mich zurechtzufinden. Ich gehe in den Raum mit der Küchenzeile. Dort stehen eine grüne Plastikgießkanne und so ein Wassersprühding zum Blumenduschen bereit. Ich habe noch nie gewusst, wie man die Flaschen mit dem Pump-Sprüh-Teil nennt.
Über Nacht hat Brandts Arrangement tatsächlich kaum gelitten. Hier und da liegen einige Blättchen, aber die habe ich ruckzuck aufgelesen. Vorsichtig besprühe ich die Blüten, fülle das Wasser in den Vasen nach und sorge dafür, dass die Gesteck-Schwämme durchfeuchtet sind. Draußen schlägt eine Autotür und ich höre, wie der Wagen einen Kavalierstart hinlegt. Kleine Steinchen spritzen gegen die Mülltonnen vor dem Friedhofstor. Schon ist es wieder mucksmäuschenstill. Irgendwie seltsam, diese ungewohnte Ruhe in einem meist hektischen Alltag. So sinniere ich und wundere mich über den mittelalten langhaarigen Mann, der mit der übertriebenen Vorsicht eines Anfängers hingebungsvoll die Pflanzen versorgt, die majestätisch darauf warten, einem Toten Spalier zu stehen. Mir ist, als sähe ich mir selbst zu. Das muss die merkwürdige Atmosphäre sein. Ein gellender Schrei reißt mich aus den Gedanken. Der Schreck hat eine Pfütze zwischen meinen Füßen zur Folge. Ich habe Blumenwasser verschüttet. Schnell stelle ich Kanne und Flasche zu Boden und renne in Richtung des Schreis, vorüber an den Urnengräbern, vorbei an den Kindergräbern, dort stelle ich mich auf eine Bank, um einen besseren Blick zu haben. Denn es ist auf Anhieb niemand zu sehen, der geschrien haben könnte. Es klang nach einer älteren Dame, meint Kalle. Außer einer Elster, zwei Krähen und mir scheint sich niemand hier zu rühren. Ein Wimmern und Schluchzen jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Zum Glück ist es helllichter Morgen und nicht stockfinstre Mitternacht, es könnte einen gruseln. Jemand muss hier sein.
»Hallo!«, rufe ich. Ein Stöhnen antwortet. Es kommt von den uralten Gräbern. Genauer gesagt, von den Grabstätten begüterter Familien, die ihrer und dem Status der Verstorbenen mit hohen Säulen, Engelsskulpturen und mächtigen Kreuzen gedacht haben. Drumherum grenzen schwere, heute rostige Gliederketten die Firmengründerfamilien aus längst vergessenen Tagen von ihren Arbeitern ab. Ich springe von der Bank und hechte über die frisch eingesäten Flächen für die Neuankömmlinge und gelange zu den Urahnen. Hinter einer dieser mächtigen Säulen, an denen der Zahn der Zeit sich versucht hat, sehe ich ein grau-rosa Bündel auf ausgehobener Erde hocken. Ein Wesen mit hellviolett schimmernden Haaren erhebt sich vom Hügel. Wacklig steht es da, schaut mich aus wässrigen, milchig trüben Augen an und stammelt:
»Er ist weg. Jetzt haben sie ihn auch.« Dann klappt sie zusammen und rutscht in die Gruft. Trotz eines Hechtsprunges schaffe ich es nicht, sie rechtzeitig zu erreichen. Sie purzelt bis ganz nach unten und bleibt auf dem Rücken liegen. Wenn die sich jetzt nicht alle Knochen im alten Leib gebrochen hat, denke ich mir und rufe:
»Hallo, können Sie mich hören?«
Keine Reaktion. Die ist tot, meint der Advokat. Die lebt noch, hüpf ihr nach, fordert Kalle. Würde mein Herz nicht so hämmern, könnte ich viel besser orten, ob das Wispern vom herumfliegenden Laub oder von ihr stammt. Ich beuge mich tief hinab. Plötzlich reißt sie die Augen auf, erblickt mich, hebt einen knöchrigen Zeigefinger in meine Richtung und ruft:
»Herr Jesus, mein Heiland!«, der Finger fällt und dann ist sie wieder still. Okay, hier kann ihr nichts passieren, sie
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