Totenklang
das Gesicht der Dame und das Entern geht ihr vom Fuß bis zum Kopf, die EU zerfranst ihre Haare. Diese Akrobatin könnte die Frau auf dem Foto sein, die mir durch die Zähne des alten Mannes geflüstert hat, ich solle sie finden. Ich zupfe das Foto vorsichtig aus meiner zerknitterten Jeans und glätte es zwischen meinen Händen. Ja, sie könnte es sein. Oder auch nicht, merkt der Advokat überflüssigerweise an. Du musst der Sache nachgehen, meint Kalle. Ich denke ebenso. Vergessen sind die Blessuren, die ich davontrug, als ich das letzte Mal meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten gesteckt habe.
Ob man mich vorne hört, wenn ich noch ein Liedchen auf der Mundharmonika übe? Ich lasse es lieber, präge mir stattdessen die Kanäle zum Ziehen und Blasen einer ersten Melodie ein.
16
Sonntag
Im Grunde habe ich schon eine ganze Schicht hinter mir, als ich am Morgen unter anderem vom durchdringenden Hupen eines LKWs geweckt werde. Des Nachts habe ich schon Gräber ausgehoben, direkt hier vor den Zapfsäulen. Tiefe und enge Gräber, so tief und eng, als wolle man in der Grube einen Basketballspieler hochkant versenken. Derweil lasen Gorillas, die bärtige Männer waren, im Shop Frauenzeitschriften und mir, der ich in Gummistiefeln dann wieder hinter der Kasse stand, kam das alles nicht mal komisch vor. Bis zu dem Augenblick, als mich ein zerzauster Alter nach dem Weg fragte. Welchen Weg, verriet er nicht. Können Sie mir den Weg beschreiben? Ich begann mich zu wundern und fing zu beschreiben an. Er müsse den Hügel hinauf, durch die Trümmer eines Hauses, dann rechts. Je mehr ich beschrieb, desto sicherer wurde ich, das Richtige zu tun. Ich wunderte mich nicht mal mehr. Plötzlich war ich derjenige, der durch die Trümmer kroch und den Weg suchte. Ein Zug näherte sich von irgendwoher und ich wusste, dass ich schneller sein musste. Was hatte ich eben noch erklärt, nach rechts? Aber da war nichts. Keine Abzweigung, nur noch mehr Geröll. Das Rattern schwoll an, das Pumpen meines Herzmuskels aufgrund bewusstwerdender Orientierungslosigkeit ebenso. Die Gegend, die ich fußläufig durchstreifte, musste jedoch meine Heimat sein, doch war sie so fremd. Sie war eine menschenleere Kulisse aus einem Hollywoodschinken, vielleicht wurde hier gestern noch eine Szene aus dem Film ›Fackeln im Sturm‹, dem amerikanischen Bürgerkriegsdrama mit Patrick Swayze, abgedreht. Der Zug ratterte weiter, meine Verzweiflung wuchs. Ich musste mich beeilen, doch ich bewegte mich in Zeitlupe. Nein, nicht ich bewegte mich, nur meine Pupillen bewegten sich, versuchten, den Weg zu finden. Ich stand wie festgemeißelt inmitten einer sandsteinfarbenen Ruine. Es war heiß, die Sonne strahlte in goldenen Tönen über die fernen Hügel. Meine Güte, hier war ich noch nie zuvor und doch lag der Ort keine fünf Minuten von der Tanke entfernt. Ich hatte mich verlaufen und kam nicht mehr weg. Der Zug ratterte jetzt ohrenbetäubend laut. Ich würde es nicht mehr pünktlich schaffen. Die letzten Kräfte mobilisierten sich und ich begann zu klettern. Mit jedem Mauervorsprung, den ich erklomm, tat sich ein neuer vor mir auf. Ich würde scheitern. Dieses Scheitern blieb nicht unbeobachtet. Auf den Schienen hinter der Ruine hockte eine Frau, nein, es war eine Kröte mit langen blonden Haaren, die kleine Knöchelchen spuckte. Der Zug würde sie erwischen. Er stampfte heran, dampfte aus dem Schornstein, pfiff und tutete. Das laute Signal ging über in das Hupen des LKWs. Das Schnaufen der Lok wurde zu meinem eigenen. Mit Herzrasen erwachte ich also an diesem Sonntagmorgen. Wie gesagt, hatte ich schon eine anstrengende Schicht hinter mir.
Vielleicht bilde ich mir das nur ein, doch seit ich nicht mehr fernsehe, träume ich in den buntesten Bildern die spannendsten Filme. Western, Krimis, Thriller. Früher, als die Mauer noch stand, träumte ich oft Spionage- und Agentenfilme. Für Komödien und Romanzen fehlt mir anscheinend der Empfang. Seltsamerweise gibt es auch keinen Sportkanal, aber immerhin Musikfernsehen. Schräge Videoclips, ›Rocky Horror Picture Show‹, ›Auf Achse‹ und die ›Straßen von San Francisco‹, selbst ›Kojak‹ war schon Gast in meinen Studios. Der vergangene Traum war wohl eher eine Mixtur aus dem ›Planeten der Affen‹, ›Catweazle‹ und ›Spiel mir das Lied vom Tod‹. Das Hauptmotiv dieses Stückes ist auch in meinem Harp-Buch, aber so weit bin ich noch nicht.
»Frühstück?«, hallt die fröhliche Stimme
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