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Totenklang

Totenklang

Titel: Totenklang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sinje Beck
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Oh, tut uns leid, sagten meine Mitschüler und schoben die Verantwortung auf die Schulleitung, die wiederum schob es auf den Klassensprecher, der es jedem sagen wollte. Mir schwillt der Kamm, wenn ich nur an Mümmel denke. Hier ist noch nicht mal irgendwer, der bezeugen könnte, dass ich da war, sollte ich mich entschließen, sofort zum Friedhof zurückzufahren. Mich befällt dieses zwiespältige Gefühl. Einerseits froh, der unangenehmen Befragungssituation noch nicht ausgesetzt zu sein, andererseits dessen bewusst, dass sie kommen wird. Man wird sich dann auch wieder vorher aufregen. Dann wahrscheinlich nicht umsonst. Ich werde einen Zettel schreiben: Heiner Himmel war hier, Sonntag, 10 Uhr, Unterschrift. Gerade als ich im Handschuhfach nach einem Stück Papier suche, höre ich einen Wagen langsam an mir vorüberfahren. Als ich aufblicke, sehe ich, wie das Zivilfahrzeug, ein grüner Opel Vectra, vor mir am Straßenrand parkt. Der völlig kahle Kai-Uwe steigt aus. Er ist hier im Ort der Knöllchenverteiler, somit der meistgehasste Mann. Seine Rolle füllt er prima aus. Er kennt keine Gnade, auch nicht vor sich selbst. Anders ist es nicht zu verstehen, dass er seit Jahr und Tag beige Cordhosen und grüne Acryl-Pullunder trägt und in Gesprächen kein gutes Haar an sich lässt. Er ist ständig auf der Suche nach einem, der sagt, dass er so schlimm/böse/hässlich/dick/dusselig/unnütz nicht sei. Es gibt nicht mal einen Menschen weit und breit, der sich mit ihm gepflegt betrinken will. Ein Gelage mit Kai-Uwe könnte in einem depressiven kollektiven Selbstmord enden. Keine Falschparker-Ausrede hat je bei ihm eine Chance bekommen. Nein, ich will ihm nicht Unrecht tun. Einmal gebar eine jugendliche Mutter ein Baby auf dem Beifahrersitz im Wagen ihres Freundes, der, von den Ereignissen überrascht, zu diesem Zweck in einer Ladezone geparkt hatte. Es werde gerade entladen, habe der werdende Vater zu seiner Verteidigung gesagt, so die Überlieferung. Für mich jedenfalls gibt Kai-Uwe jetzt einen prima Zeugen ab.
     
    Nach einer wortkargen Begrüßung und der Begründung meiner Anwesenheit meint Kai-Uwe, ich solle drinnen warten. Er werde Mario anrufen. Wir gehen in das kleine Büro, ich bekomme einen niedrigen und starren Drehstuhl, der den Namen nicht verdient, vor dem größeren der beiden Schreibtische angewiesen und Kai-Uwe telefoniert mit dem Rücken zu mir gewandt. Man sitzt hier wie auf einem Erstklässlerstühlchen, sicher nicht ohne Grund. Für methodisch dermaßen ausgebufft hätte ich die Dienststelleninhaber nicht gehalten, einen Stuhl zu manipulieren, um das Gegenüber in Demutshaltung zu zwingen. Ach was, es wird der Sparzwang sein, der die Sitzgelegenheit über die letzten Dekaden gebracht hat. Ich lasse meinen Blick über den fast leeren Schreibtisch wandern. Auf der Ablage liegen Tatortfotos. Ich erkenne das leb- und gebisslose Gesicht des Alten. Aschfahl die Haut, wässrig grau die Augen, starrt er seinem letzten Gedanken hinterher. Könnten die Pupillen ein Nachbild erzeugen und festhalten, müsste darin sein Mörder zu sehen sein, falls es nicht doch Selbstmord war. Ich bezweifle das, meldet sich Kalle.
     
    Aus dem Fax hängt ein Blatt Papier. Ergebnis einer Anfrage. Ich beuge mich ein wenig vor, während Kai-Uwe eine weitere Telefonnummer eintippt. Mit der ersten scheint er auf der Suche nach Mario kein Glück gehabt zu haben. Er flüstert, ich lese:
    Reginald Schuster, geboren 31.12.1930 in Berlin, zuletzt gemeldet in Hamburg, Berufsangabe: Künstler. Aktenkundig wegen Landfriedensbruches 1969. Ob er ein Hausbesetzer war, frage ich mich. Seinen Pass habe er noch im gleichen Jahr an den Innenminister gesendet und nach letztem Kenntnisstand nie einen neuen beantragt, zumindest sei es der Behörde nicht bekannt. Geht denn so was, frage ich den Advokaten in mir. Man könne sich nicht selbst ausbürgern, sagt er nur. Was geschieht, wenn man es doch tue, darauf weiß er keine Antwort. Ich frage mich dann, woher er das Gebiss hatte. Ohne Personalien keine Krankenversicherung. Es soll Ärzte geben, die Arme und Landstreicher honorarfrei behandeln, fällt mir eine Reportage aus einem Nachrichtenmagazin ein, das ich vor einigen Wochen in der Tankstelle gelesen habe.
     
    Kai-Uwe hat das Flüstern eingestellt. Sein lautes:
    »So, Heiner!«, wir kennen uns noch aus der Schule, erschreckt mich.
    »Mario lässt sich entschuldigen. Du sollst morgen noch mal kommen, um die gleiche Zeit.«
    »Was soll denn das jetzt?

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