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Totenklang

Totenklang

Titel: Totenklang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sinje Beck
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liegt sicher, atmet und ist wahrscheinlich nur ohnmächtig. Ohne Hilfe und ohne ihr wehzutun, kriege ich die alte Dame eh nicht aus dem Erdloch raus, daher renne ich zur Friedhofskapelle und wähle den Notruf. Nach dem Telefonat, man sei in fünf Minuten da, hieß es, laufe ich hektisch und augenscheinlich planlos umher, auf der Suche nach einer Decke oder Plane. Fehlanzeige. Gegenüber der Kapelle, Richtung Ausgang und Grünschnittcontainer, erkenne ich ein unscheinbares Kabuff, dessen Tür offen steht. Nur deswegen fällt es mir auf, denn ich kann mich nicht erinnern, gestern dieses Holzhüttchen bemerkt zu haben. Ich werfe einen Blick hinein. Dunkel hier drin, doch ich gewahre die unregelmäßig hubbeligen Umrisse einer Decke, die auf einer Art Werkbank liegt und ziehe sie hastig herunter. Irgendwas scheppert, aber ich nehme mir nicht die Zeit nachzusehen. Kann ich gleich auch noch tun. Wieder im Tageslicht, erkenne ich, dass es sich bei meinem Fund um einen alten Schlafsack handelt, der nach hundert Jahre altem Staub riecht. Das gelb-orange-ocker-braune Blumenornament darauf entstammt der Ära der Nierentische. Der Schlafsack ist reichlich verblasst, an manchen Stellen schon sehr dünn und durchgeschubbert. Egal, der alte Sack muss es tun. Entweder ich bekomme die Dame aus der Gruft und kann sie darauflegen oder ich lege den Sack über sie, damit sie nicht zu stark auskühlt, bis fachkundige Hilfe sich ihrer annimmt. Als ich zur Grabstätte zurückkomme, sehe ich gerade noch Hanfs verfilzte braungraue Reste von Dreadlocks in dem Loch verschwinden. Er hat sich darangemacht, die alte Frau zu bergen. Vorsichtig hebt er sie hoch, wobei die Dame ein schmerzliches Stöhnen von sich gibt. Schnell breite ich den Schlafsack am Grabrand aus, damit er sie dort ablegen kann. Als er das Nylongewebe sieht und es wahrscheinlich als sein eigenes identifiziert, blitzt fast so etwas wie Wut in seinen Augen auf. Oh oh, raunt Kalle, ist wohl seiner. Dann schaut mir Hanf über die Frau hinweg ins Gesicht, das wie so oft die pure Ahnungslosigkeit ausstrahlt und er scheint sich zu entspannen. Mit einer von mir bei ihm nicht erwarteten Sanftheit bettet er die gefallene Dame auf den Schlafsack, wobei sie wieder leise stöhnt. Was man jedoch kaum wahrnimmt, da der Rettungsdienst mit lautem Signal auf sich aufmerksam macht. Er passt nicht durchs einseitig geöffnete Friedhofstor und ich haste zu Hilfe.
    Kurz und knapp schildere ich den Sanitätern und dem ebenfalls herbeigerasten Notarzt, was geschehen ist, und zeige Richtung Grab. Schnell hat die Krankenwagenbesatzung die Trage zwischen sich, einen Moment später die Dame sozusagen aufgebockt und ebenso schnell hat der Notarzt seinen Koffer parat und die ersten Reaktionstests gemacht. Die Dame ist auf dem Weg zwischen Leben und Tod. Ihr Puls ist schwach und unregelmäßig. Ihr Atem geht flach. Der Arzt gibt einige knappe Befehle und im Nu hat die Reisende eine Infusionsnadel im Arm. Langsam tröpfelt eine Kochsalzlösung aus einer Flasche durch einen transparenten Schlauch durch ihre ebenso transparente Haut in die violette Blutbahn. Sie wird medizinisch versorgt umkehren, zurück ins Leben, darauf hat der Arzt einen Eid geschworen.
    »Halb verdurstet und unterernährt«, sagt er an die Nichtmediziner gewandt und sein Nicken lässt die Sanitäter wissen, dass sie die Patientin abtransportieren können.
    »Wissen Sie, wer sie ist?«, fragt er und klappt ein Notizbuch auf.
    »Fräulein Hedwig«, sagt Hanf und dass er sie nur unter diesem Namen kenne. Immer noch stehen wir um die Grabstätte herum, in die sie gefallen ist. Familie Paul Otto Jung steht in fragiler Frakturschrift auf der großen Säule. Als der Arzt gehen will, fällt Hanf ein, dass er Fräulein Hedwig schon mal in der Nähe der Siegener Tafel gesehen habe. Der Doktor sagt noch, dass er sich beim Sozialen Dienst umhören müsse, wenn die Dame nichts bei sich gehabt habe und verabschiedet sich.
    »Wohin bringen Sie sie?«, möchte ich wissen.
    »Marienkrankenhaus«, spricht er im Weggehen.
    Hinter mir faltet Hanf den Schlafsack zusammen. Sein konzentrierter Blick auf das, was er tut, signalisiert ›sprich mich bloß nicht an‹. Dann stapft er davon. Hinterher, raunt Kalle im Befehlston. Mit einem gebührenden Abstand schlendere ich dem Friedhofshelfer hinterdrein und sehe gerade noch, wie er in dem Kabuff verschwindet, in dem ich den Schlafsack gefunden habe. Die ausgemergelte Verbretterung der Bude lässt es zu, dass man

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