Totenkünstler (German Edition)
Zimmer, und ich belausche auch nicht die Gespräche anderer Leute.«
»Ich bitte um Entschuldigung, so war das nicht gemeint«, beeilte sich Garcia zu sagen. »Ich wollte bloß wissen, ob Mr Nicholson Ihnen gegenüber etwas erwähnt hat.«
Amy schenkte Garcia ein dünnes Lächeln zum Zeichen, dass sie seine Entschuldigung annahm. »Wollen Sie die Wahrheit wissen? Es wird nie viel geredet, wenn Krebskranke Besuch bekommen. Egal wie gesprächig die Leute sind, sobald sie sehen, was die Krankheit aus ihren Freunden oder Verwandten gemacht hat, wissen sie nicht mehr, was sie sagen sollen. Die meisten stehen einfach nur da und schweigen und versuchen, nicht die Fassung zu verlieren. Wenn man weiß, dass jemand bald sterben wird, fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden.«
Hunter schwieg. Er wusste genau, wovon Amy Dawson sprach. Er war erst sieben gewesen, als bei seiner Mutter Glioblastoma multiforme, eine besonders aggressive Form des Gehirntumors, diagnostiziert worden war. Als die Ärzte den Tumor entdeckten, war er bereits so groß, dass eine Operation nicht mehr in Betracht kam. Innerhalb weniger Wochen verwandelte sich seine Mutter von einem lachenden, lebensfrohen Menschen in ein ausgezehrtes Gerippe, das man kaum noch wiedererkannte. Nie würde Hunter vergessen, wie sein Vater mit Tränen in den Augen neben ihrem Bett gestanden hatte, unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Er hatte einfach nicht gewusst, was er sagen sollte.
»Können Sie sich noch an ihre Namen erinnern?«, bohrte Garcia weiter.
Amy überlegte lange und gründlich. »Tja, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher. Aber ich weiß noch, wie ich bei dem Ersten, der zu Besuch kam, gedacht habe, dass es jemand Wichtiges sein muss. Er hatte einen großen Mercedes mit Chauffeur und allem.«
»Könnten Sie ihn beschreiben?«
Sie wiegte den Kopf hin und her. »Ein älterer, stämmiger Typ mit Pausbacken. Nicht besonders groß, aber sehr gut angezogen. Hat viel die Arme bewegt.«
»Bezirksstaatsanwalt Bradley?«, mutmaßte Garcia und sah Hunter an, der zustimmend nickte.
»Ja«, sagte Amy mit dem Anflug eines Lächelns. »Ich glaube, so hieß er.«
»Was ist mit dem zweiten Besucher, wissen Sie noch was über den?«
Amy durchforstete ihr Gedächtnis. »Der war schlanker und größer.« Sie musterte Hunter. »Ungefähr so groß wie Sie, würde ich sagen, vielleicht auch in Ihrem Alter. Er war sehr attraktiv. Schöne dunkle Augen.«
Garcia machte sich zu allem Notizen. »Sonst noch was, woran Sie sich erinnern können?«
»Ich glaube, er hatte einen kurzen Namen. Ben oder Dan oder Tom oder so ähnlich.« Sie zögerte und schöpfte Atem. »Irgend so was in der Art, aber ich weiß es nicht mehr genau.«
»Amy.« Hunter beugte sich vor und stellte sein leeres Eistee-Glas auf den Couchtisch zwischen ihnen. »Sie haben sich doch bestimmt öfter mit Mr Nicholson unterhalten. Sie haben schließlich viel Zeit mit ihm verbracht.«
»Hin und wieder mal, ganz zu Anfang«, räumte Amy ein. »Aber dann wurde seine Atmung schlechter. Das Sprechen hat ihn sehr angestrengt. Wir haben dann nicht mehr so viel geredet.«
Hunter nickte. »Hat er Ihnen irgendwas gesagt, von dem Sie denken, dass es uns vielleicht weiterhelfen könnte? Über sein Leben? Über einen seiner Fälle? Über eine bestimmte Person?«
Amy schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. »Ich war doch bloß seine Krankenschwester. Warum hätte er sich ausgerechnet mir anvertrauen sollen?«
»In den letzten Wochen haben Sie mehr Zeit mit ihm verbracht als irgendjemand sonst. Sogar mehr als seine eigenen Töchter. Können Sie sich wirklich an nichts erinnern?«
Hunter wusste, dass der Wunsch nach Kommunikation tief im Innern eines jeden Menschen verwurzelt war. Reden hat eine heilende Wirkung und wird umso wichtiger, je näher jemand dem Tod ist. Da Amy so viel Zeit mit Nicholson verbracht und sich um ihn gekümmert hatte, war es nur natürlich, dass sie für ihn irgendwann die Rolle eines engen Vertrauten angenommen hatte. Jemand, mit dem er reden, dem er sich offenbaren konnte.
Amys Blick schweifte zum Fenster rechts neben Hunter. »Einmal hat er was gesagt, worüber ich mich gewundert habe.«
»Und was war das?«
Sie schaute nach wie vor aus dem Fenster. »Er hat gesagt, wie seltsam doch das Leben ist. Egal wie viel Gutes man getan oder wie vielen Menschen man geholfen hat, am Ende sind es die Fehler, die einen bis in den Tod verfolgen.«
Weder Hunter
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