Totenkult
eines relativ jungen Mannes – nicht auch, sagen wir mal, überraschend?« Er breitete die Arme über die Rückenlehne des Sofas. Die Brille baumelte von seinem Zeigefinger wie ein Pendel. Dann legte er den Kopf in den Nacken und starrte zur stuckverzierten Decke hinauf, als erwarte er dort die Antwort auf seine Frage.
Bosch überlegte sich seine Worte. »Na ja, soviel ich weiß, war es ein Herzanfall. Aschenbach hatte eine Vorerkrankung und hatte an dem Abend zu viel getrunken. Das haben Sie selbst gesagt.«
Als Frau Aschenbach an jenem Morgen bei ihm aufgetaucht war, hätte er alles gewettet, dass ihr Mann nur seinen Rausch ausschlafen musste. Aber dann hatte er in Aschenbachs gealtertes Gesicht geblickt, das so gar nicht zu dem lebenslustigen Mann auf dem Fest passte. Diese graue Maske, die aussah, als wollte sie vom Schädel gleiten und ein Geheimnis preisgeben. Doch, er hatte sich gewundert. Bosch hob den Kopf und bemerkte, dass Henri ihn fixierte. In seinen Froschaugen flackerte das Kaminfeuer.
»Man macht sich halt so seine Gedanken.« Henri lächelte. Ein wenig spöttisch, wie Bosch fand. »Zunächst ist man erschrocken, voller Teilnahme, nicht wahr? Aber dann, mit einem gewissen Abstand, kommen einem Zweifel. Zumindest ist es bei mir so.«
Henri griff nach der silbernen Teekanne und schenkte sich den fast schwarzen Sud ein. Dann stand er auf und hinkte zum Samowar hinüber. Zischend lief das heiße Wasser in seine Tasse. Die alten Buchrücken in den Regalen verschwanden hinter goldenem Dampf.
Bosch schluckte. »Welche Zweifel denn?«
Henri ließ seine Finger über dem Silberteller mit den Sandwiches kreisen. Endlich schnappte er sich ein Sandwich mit fast blutigem Roastbeef. Henri musterte den Happen zufrieden und kehrte zu seinem Sofa zurück. »Ein Mann wie Aschenbach – noch dazu in seinem Metier – muss doch jede Menge Feinde haben.« Er verschlang das dünne Brot mit zwei Bissen. »Denn seien wir ehrlich«, er zwinkerte Bosch zu, »sein Metier war Betrug.«
Bosch dachte an die Auseinandersetzung auf der Gartenparty und den Mann mit dem kurz geschorenen Haar, der sich Tage vorher schon in der Nähe des Bauernhauses herumgetrieben hatte. War er einer von Aschenbachs Geschäftspartnern? Ein Anleger oder ein Kunde?
»Aschenbach hatte an dem Abend Streit«, sagte er zögernd. Ganz offensichtlich war der Mann kein Freund des Finanzhändlers gewesen. Aschenbach hatte ihn rausschmeißen wollen. Aber er hatte keine Angst vor dem Mann gezeigt. Das war möglicherweise ein Fehler gewesen.
»Und vergessen Sie nicht den zerstochenen Autositz.« Henri schüttelte den Kopf. »Sehr unangenehm, dass das ausgerechnet hier im Schloss passieren musste.« Ein unnötiger Fauxpas als Gastgeber, besagte sein bekümmerter Tonfall.
Bosch ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. Man musste ziemlich viel Geld verloren haben, um mit solcher Kraft und Wut zuzustechen. Aber ein Fremder wäre doch sicher Cesario aufgefallen, der immer im Schloss herumschlich. »Ja, das ist wirklich seltsam.«
»Sehen Sie, mon cher , sehen Sie.« Henri nickte. »Angenommen, wir gehen von einem gewaltsamen Tod aus«, er hob die Hand, um Boschs Einwand zuvorzukommen, »nur mal angenommen. Die Frage, die sich uns angesichts Aschenbachs Tod dann stellt, ist die klassische: Cui bono? Zu wessen Nutzen?«
Später war Bosch der festen Überzeugung, dass ihn die Tageszeit und die weltferne Atmosphäre in der Bibliothek hoch über dem See zu diesem Gespräch verführt hatten, das die tödlichen Ereignisse auslösen sollte. Er hatte einmal gelesen, dass Hinrichtungen und Duelle absichtlich im Morgengrauen stattfanden, in dieser trügerischen Stunde zwischen Nacht und Tag. Die gleiche unwirkliche Stimmung fühlte er am späten Nachmittag, wenn die Ränder des Tages verschwammen und die Nacht ihre Phantasien entfaltete. Seine besten Bilder waren um diese Zeit entstanden.
»Ich weiß es nicht«, meinte Bosch. »Mord?«
Kaum war das Wort gesagt, schwebte es zwischen ihnen im Raum und war auf dem besten Weg, zur Tatsache zu werden. Bosch hatte den Gedanken ausgesprochen, der ihm beim Anblick der Leiche durch den Kopf geschossen war. Und den er sofort als undenkbar wieder daraus verbannt hatte.
Vom Schlosshof war Motorengeräusch zu hören. Kies knirschte unter den Rädern eines schweren Wagens. Dann schlug eine Autotür zu, und jemand eilte die Stufen zur Eingangstür hinauf.
Henri wandte den Kopf zum Fenster. »Das wird Cesario sein, endlich.« Er
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