Totenkult
in so leichtem Ton, als teilte sie Marie nur mit, dass der Kühlschrank leer sei.
»Was?« Marie starrte Jessica an. »Ich denke, der Laden läuft so gut?«
»Aber das Firmenkapital steckt in verschiedenen Projektentwicklungen.« Jessica begann, an den Fingern abzuzählen. »Die Lodge wird mal eine Riesennummer, trägt aber noch nichts. Die Präsentation in Rom ist gut gelaufen, aber ob und wann diese Ferienanlage auf Sardinien nun realisiert wird, das steht noch in den Sternen. Wir warten seit Wochen auf die Pläne von diesem italienischen Stararchitekten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Genau deswegen sind wir ja derzeit nicht flüssig.«
»Ach du großer … Alles hängt also von diesem Deal ab.« Marie zeigte auf die Pläne. Jetzt hatte sie schon »Deal« gesagt. Wie Roland.
Jessica nickte. »Kann man so sagen.«
Marie fielen wieder die leeren Konten ein. Ein hässlicher Gedanke schlich durch ihren Kopf. Vielleicht war ihr Misstrauen gar nicht berechtigt gewesen. Vielleicht hatte Roland am Ende sein Geld nicht vor ihr in Sicherheit bringen wollen, sondern er hatte nur alles ins Unternehmen gesteckt. »Ja, dann …«
»Dann?«
Marie nahm ihre Handtasche vom Schreibtisch und schob sie hinter ihren Sessel außer Sichtweite. Ab jetzt brauchte sie einen Aktenkoffer. »Bringen Sie mir einen Espresso, ohne Milch und Zucker, und ein großes Glas Mineralwasser, ohne Kohlensäure. Und dann machen wir Nägel mit Köpfen.«
Jessica starrte sie an.
»Sie wollen Ihren Job doch behalten, Mädchen, oder?«
Sie nickte.
»Also, worauf warten Sie dann noch?«
»Auf nichts.« Jessica machte auf den silbernen Hacken kehrt. »Bin gleich zurück, Frau Chef .«
Marie wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann lehnte sie sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Heute Morgen war sie als Witwe in St. Gilgen losgefahren, unsicher, wie ihre Zukunft aussehen würde. Und nun, wenige Stunden später, war sie eine Geschäftsfrau. Kurz meldete sich Maries schlechtes Gewissen und erinnerte sie daran, dass dieses Unternehmen Rolands Verdienst war. Aber sie brachte es gleich zum Schweigen. Sie würde Rolands Lebenswerk weiterführen.
Sie beugte sich wieder über die Entwürfe und überflog noch einmal die Telefonnummer, die Roland an den Rand gekritzelt hatte.
Marie hob den Hörer ab und wählte. Am anderen Ende der Leitung läutete es endlos, sodass sie schon wieder auflegen wollte. Aber dann wurde doch noch abgehoben, und eine Männerstimme meldete sich.
»Hallo?«, sagte Marie mit einem Lächeln. »Nun raten Sie mal, wer hier ist.«
NEUN
Es war einer jener stillen Regentage, für die das Salzkammergut berühmt ist und die sich aneinanderreihen wie schimmernde graue Perlen einer endlosen Kette. Die Berggipfel waren mit Nebel verhangen, über den See liefen raue Wellen, und auf der Uferpromenade verwelkten die ersten Blätter.
Vor den Spitzbogenfenstern der Schlossbibliothek waberte farbloser Dunst und hinterließ feuchte Schlieren auf den Scheiben. Bosch, tief in seinen Sessel gekuschelt, konnte nicht mehr ausmachen, wo Wasser, Berge und Himmel ineinander übergingen.
Obwohl es erst kurz nach vier Uhr am Nachmittag war, loderte im Kamin bereits ein Feuer. Das Bild des Mokomokai auf dem Sims lag im Schatten, die Linien auf dem Gesicht waren kaum zu erkennen. Leise brodelte der Samowar. Auf einem Silberteller lagen noch ein paar belegte Brote.
Bosch war den ganzen Tag durch Mauerdurchbrüche gestiegen, über Schuttberge geklettert und hatte in zugigen Kellergängen auf Bauarbeiter eingeredet, denen die Witterung nichts auszumachen schien. Wenigstens die groben Arbeiten mussten vor dem ersten Frost fertig werden. Mit dem Innenausbau konnte man sich über den Winter Zeit lassen. Irgendwann hatte er das Gefühl gehabt, seine Knochen wären zu Eiszapfen gefroren.
Die Rettung war in Gestalt von Henri gekommen, der nur einen Blick auf Bosch geworfen und ihn dann kurzerhand zu Tee und Sandwiches in der Bibliothek eingeladen hatte.
Bosch drückte sich noch weiter in den Sessel vor dem Kaminfeuer und wärmte seine klammen Finger an der Tasse mit russischem Tee. Dabei schaute er Henri zu, der auf dem Sofa saß und auf dem kleinen Tisch vor sich alte Fotos sortierte. Zu seinen Füßen lag eine zerlesene Tageszeitung. Daneben standen Kartons, aus denen er immer wieder sepiafarbene Bilder mit gezackten Rändern nahm und sie einer genauen Betrachtung unterzog, um sie dann auf einen der stetig
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