Totenkult
Mirabellplatz zu ihrem Fenster hinaufgeschaut. Sein Gesicht war unter der Hutkrempe verborgen gewesen.
Energisch schlug Marie den Aktenordner zu. Wenn der Protest der Anleger irgendeine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wäre sie jetzt nicht stolze Eigentümerin einer Traumliegenschaft am Arlberg. »Viel Feind’, viel Ehr’.« Das waren Rolands Worte. Sie hatte nicht umsonst fünfzehn Jahre ihres Lebens mit ihm verbracht.
Ein zischendes Geräusch ließ Marie auffahren. Zwischen den Weidenzweigen glitt ein roter Surfer knapp vor dem Ufer vorbei. Das Segel lag so schräg im Wasser, dass es seine Oberfläche streifte. Wie ein Messer, das durch die Wellen schnitt.
ELF
Das Klirren riss ihn aus dem Schlaf. Jemand war im Haus. Bosch schlug die Augen auf. Deutlich hatte er das Zerbrechen von Glas gehört. Er rührte sich nicht, sondern lauschte nur in die Dunkelheit hinein. Die Holzbohlen auf der Veranda knarrten. Glasscherben knirschten.
Jetzt hörte er leise Schritte. Schwacher Lichtschein kroch durch die Türritzen ins Schlafzimmer. Jemand ging im Haus umher. Die Schritte kamen näher und verstummten vor der Tür. Bosch unterdrückte den Impuls, sich unter dem Bett zu verstecken. Stattdessen lag er ganz still und bemühte sich, flach und lautlos zu atmen. Nichts war zu hören. Nur sein Wecker tickte. Bosch brach der Schweiß aus. Sein Puls raste, und in seinen Ohren rauschte das Blut. Auf der anderen Seite der Tür raschelte etwas. Bosch hielt den Atem an. Der Holzboden knarrte. Die Schritte entfernten sich. Bosch atmete aus und schloss die Augen.
Aus dem Wohnraum war ein Geräusch zu hören, als würden Stoffbahnen auseinandergerissen. Etwas polterte auf den Boden. Wieder das Klirren von Glasbruch. Die Stufen in den Garten knirschten. Stille. Bosch machte vorsichtig die Augen auf und zählte bis zwanzig. Erst dann wagte er, sich zu bewegen.
Langsam schob Bosch die Decke zurück. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper, und seine Glieder waren so schwer wie nach einer ungeheuren Anstrengung. Er schob die Füße über den Rand des Bettes und blieb so lange sitzen, bis das Zittern in seinen Beinen nachließ. Barfuß tappte er über den rissigen Holzboden und öffnete die Tür einen Spalt. Er horchte. Im Haus war alles dunkel und still. Nur ein Lufthauch, der den Geruch nach See in sich trug, strich an ihm vorbei. Bosch streckte den Kopf in den Gang.
»Hund?«
Das Dunkel blieb stumm.
Bosch machte die Tür ganz auf und ging zum Wohnraum. Er tastete nach dem Lichtschalter. Die Deckenlampe flammte auf. Die Tür zum Garten stand offen, das Glas neben der Türklinke war zerbrochen. Seine Scherben bildeten ein surreales Muster auf dem Verandaboden. Sonst sah das Zimmer aus wie immer. Auf dem Tisch stand noch der Teller vom Vorabend, darauf lagen der halb gegessene Apfel und das Schälmesser. Die Pinsel ausgewaschen und nach Größe geordnet, die Farben für den nächsten Tag hergerichtet. Nur der Malschemel war umgefallen. Das musste das Poltern gewesen sein … Und der Hundekorb war leer – sehr ungewöhnlich.
»Hund? Kannst rauskommen, du Feigling.«
Nichts rührte sich. Nur der Seewind kroch durch das zerbrochene Verandaglas und schlängelte sich in den Raum. Es raschelte leise hinter Boschs Rücken. Er fuhr herum. Das weiße Tuch war von der Staffelei geglitten. Das Narrenschiff pflügte durch die grünen Wellen, und die Reisenden feierten ihr unheimliches Bacchanal. Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung. Aber auf den zweiten Blick stimmte etwas nicht. Ein neuer Schatten fiel über das weiße Segel. Bosch kniff die Augen zusammen. Wann hatte er den gemalt? Dann sah er es.
Im Bauch des Spanferkels, das unter der flatternden Fahne an den Hinterbeinen aufgehängt war, steckte ein Messer. Sein Griff ragte wie ein Querbaum ins Zimmer und gab dem Bild eine dritte Dimension. Ein Schnitt kroch im Zickzackkurs über das ganze Bild. Bosch schnappte nach Luft. Wo war der Hund?
»Hund?« Bosch rannte in den Garten hinaus.
Draußen war es taghell. Ein riesiger Mond hing tief über dem See, sein Widerschein tanzte auf den Wellen und verlieh dem schwarzen Wasser silbernen Glanz. Bosch konnte das Schlagen der Brandung an den Pfosten des Steges hören. Und noch etwas hörte er. Ein Hecheln und Fiepen. Es kam ebenfalls vom Steg. Bosch rannte den Pfad zum Ufer hinunter.
Der Hund saß am Ende des Steges. Als er Bosch kommen sah, sprang er auf und trippelte aufgeregt auf der Stelle. Aber er lief seinem Herrn nicht
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