Totenkult
Schnauze auf und gähnte herzhaft. Seine Zähne glänzten bläulich im Licht des Vollmonds.
»Zu spät, um den Werwolf zu spielen, mein Lieber. Hier – pass mal auf.«
Bosch ging zu dem Stein hinüber und warf ihn in den See. Mit einem Gluckern versank der Brocken, und das Seil verschwand schlängelnd in der schwarzen Tiefe. Ein paar Wellen verliefen sich in konzentrischen Kreisen, dann war das Wasser wieder so glatt, als wäre nichts geschehen.
ZWÖLF
»Das waren die Nachrichten um zehn. Und nun zum Wetter. Mit einem Hochdruckgebiet strömt warme Mittelmeerluft in den Alpenraum …«
Marie stand auf der Terrasse und schaute auf den Wolfgangsee hinaus. Weißer Dunst, ein Gespinst aus Wasser und Luft, lag über der spiegelglatten Oberfläche, und die Berge schienen hinter einer Milchglasscheibe verborgen. Ein heißer Tag kündigte sich an. Die Luft war dick und schwer von Feuchtigkeit. Ein ideales Klima für Insekten.
Sie schob einen Ärmel ihres Bademantels hoch und musterte die neu hinzugekommenen Mückenstiche der vergangenen Stunden. Jeder redete immer nur von der gesunden Luft am Wasser, aber niemand erwähnte die im Schilfgürtel brütenden Quälgeister.
Die ganze Nacht hatte sie sich zwischen den verschwitzten Bettlaken hin und her gewälzt und dabei dem durchdringenden Sirren der Blutsauger gelauscht, um rechtzeitig zuschlagen zu können. Irgendwann hatte sie sich sogar Schritte und seltsame Geräusche am Haus eingebildet. Aber ehe sie sich dazu durchringen konnte, nachzuschauen, waren sie schon wieder verstummt.
Endlich hatte das Quaken der Frösche im Schilf den Tagesanbruch angekündigt, und sie war in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen. Jetzt ging es schon auf Mittag zu.
»Die nächsten Tage werden heiß, aber unbeständig, mit Höchsttemperaturen weit über der Dreißig-Grad-Grenze. Lokale Gewitter sind in den Abendstunden möglich, die im Seengebiet auch teils heftig ausfallen können.«
Marie ging ins Wohnzimmer zu Rolands Hightech-Anlage und drehte die penetrante Stimme des Moderators ab. Ihr war nicht nach fremder Fröhlichkeit. Kaum schwieg das Radio, bimmelte die Glocke am Gartentor. Der nächste Störenfried kündigte sich an. Hoffentlich nur die Post. Marie zog den Gürtel ihres Bademantels fester und ging über die Terrasse zum Eingang.
Der Postbote streckte ihr bereits einen Packen Briefe über das Tor entgegen. »Morgen, Frau Aschenbach. Einschreiben für Sie.«
Marie nahm die Briefe und unterschrieb das Formular. Das Schreiben war vom Anwalt, sicher noch Unterlagen zur Erbschaft. Außerdem Werbesendungen, die neue Vogue und der Lokalanzeiger. Sie wollte sich gerade umdrehen und ins Haus zurückkehren, als der Postbote sie aufhielt.
»Hier«, sagte er und hielt ein kleines Kuvert hoch. »Das hat im Briefschlitz festgesteckt.« Er warf einen Blick darauf. »Hat sicher wer eingeworfen.«
»Ach ja?« Marie nahm ihm das Kuvert ab.
»Na dann, schönen Tag noch.« Der Postbote stieg in seinen gelben Polo und brauste davon, als gelte es, ein Paket mit lebensrettender Medizin zu überbringen.
»Ja, schönen Tag auch«, murmelte Marie.
Sie öffnete den cremefarbenen Umschlag und zog eine Karte, steif und glatt wie Elfenbein, heraus. Am oberen Rand war ein Monogramm eingeprägt. H d M. Kein verschnörkeltes Wappen, keine prätentiöse Schlossadresse. Sehr stilvoll. Und der Schreiber hatte eine Füllfeder benutzt. In großen fliehenden Buchstaben stand dort mit schwarzer Tinte geschrieben:
Chère Madame,
ich bin den ganzen Tag zu Hause und würde mich über Ihren Besuch freuen. Sie wollten doch das Schloss sehen? Wie wäre es mit einer Führung und einem leichten Mittagessen? Bitte nehmen Sie diese Karte mit, damit Cesario Sie einlässt.
Ihr ergebener H.
Der Tag war gerettet. Wahrscheinlich hatte dieser Cesario die Karte auf seiner Einkaufstour im Ort eingeworfen. Chère Madame … Ihr ergebener … Sie musste sich beeilen. Und die Gartenbücher konnte sie bei der Gelegenheit auch gleich zurückgeben. Das würde einen guten Eindruck machen.
Voller Vorfreude warf sie die Post einfach auf den Tisch zu den Ordnern, die sie am Abend nicht mehr weggeräumt hatte. Dann rannte sie ins Haus. Zwanzig Minuten reichten Marie, um zu duschen, ein dezentes Make-up aufzulegen und ihr blondes Haar zu einem Knoten aufzustecken. Sie entschied sich für ein weißes Leinenkleid, es sollte ja heiß werden, und flache Sandalen. Im Spiegel ihres Ankleidezimmers warf sie sich einen anerkennenden
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