Totenkult
anderes übrig, als der angegebenen Richtung zu folgen. Immerhin hatte er das Gefühl, dass sein Weg ihn zu dem Raum mit dem erleuchteten Fenster führte. Er ging an der Bibliothek vorbei und an dem Zimmer, das die chinesische Sammlung beherbergte. Die Wandlampen waren ausgeschaltet, und es war totenstill. Endlich stand er vor einer Doppelflügeltür. Kein Geräusch durchbrach die Stille und die Dunkelheit. Aber warmes Licht floss unter dem Türspalt hervor und fiel auf Boschs Schuhspitzen. Jemand räusperte sich im Zimmer. Bosch klopfte energisch an.
»¡Adelante!« Henri erwartete offensichtlich Cesario.
Die Messingklinke befand sich fast in Boschs Augenhöhe. Er drückte sie herab und stieß die Tür auf. »Guten Abend.«
Vor Bosch lag ein weitläufiges Arbeitszimmer. Die präparierten Köpfe von Antilopen und Gazellen bedeckten die Wände. Ein Bündel bunter Schnüre, das von einem Paar gekreuzter Kriegsspeere herabhing, bewegte sich sacht im Luftzug der offenen Tür. Im Kamin loderte ein Feuer und warf Reflexe auf die gedrehten Hörner der ausgestopften Tiere.
Henri saß mit dem Rücken zum Fenster in einem Lehnsessel hinter dem Schreibtisch und war dabei, ein Chaos aus Akten, Papieren und Zeitungen vor sich zu ordnen. Eine aufgeklappte Aktentasche lag neben seinem linken Ellenbogen. Als Bosch eintrat, schaute er auf.
»Oh, Hans.« Henri lächelte. In der einen Hand hatte er ein Kuvert, in der anderen hielt er einen Brieföffner. »Was für eine charmante Überraschung.« Mit dem Öffner, dessen Spitze im Schein des Kaminfeuers glühte, beschrieb er einen Kreis und deutete dann auf eine Stelle vor dem Schreibtisch. Für den Bruchteil eines Augenblicks hing eine leuchtende Spur in der Luft. »Treten Sie näher, mon cher . Was verschafft mir das Vergnügen Ihres Überfalls?«
Bosch blieb, wo er war. »Ich sehe, Sie wollen verreisen?« Er verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sind Sie deswegen gekommen? Um Adieu zu sagen?« Henri zog die Brauen zusammen. »Aber – ja, ich werde abreisen.« Er stach den Öffner unter die Brieflasche und schlitzte das Papier auf. Er zog ein Blatt heraus, überflog seinen Inhalt, zerknüllte es und warf es in den fast vollen Papierkorb aus Zebrafell, der neben dem Schreibtisch stand. Der Umschlag flog hinterher. »Ich habe mit meinem Architekten gesprochen. Wir halten es für besser, die Arbeiten für dieses Jahr abzubrechen. Der Herbst steht vor der Tür, und wir brauchen neue Baupläne, und daher …«
»Wann wollten Sie denn fahren?« Bosch schloss die Tür hinter sich. Er wusste nicht, wie Henri auf das, was er zu sagen hatte, reagieren würde. Auf keinen Fall wollte Bosch Henris Zerberus, Cesario, in seinem Rücken haben.
Er durchquerte das Arbeitszimmer. Statt Teppichen bedeckten die Häute exotischer Tiere die Holzdielen. Das braun-weiße Fell einer Antilope knirschte unter seinen Schuhen. Vor der Feuerstelle lag der verblichene Pelz eines bengalischen Tigers. Die runden Ohren waren an den Rändern vertrocknet und die Fangzähne in dem aufgerissenen Maul abgebrochen. Das Feuer spiegelte sich in den orangefarbenen Glasaugen und hauchte ihnen Leben ein. Neben dem Tigerkopf stand ein mit schwarzem Leder bezogener Hocker.
Dies war kein Ausstellungsraum für Kunstschätze, dies war ein Arbeitszimmer voller persönlicher Erinnerungsstücke. Thibeault de Mortin war anscheinend nicht nur ein berühmter Forscher, sondern auch ein Großwildjäger gewesen. Wie an der Zahl seiner ausgestopften Opfer zu sehen war, hatte Töten ihm ebenso wenig ausgemacht wie seinem Enkel. Die lodernden Flammen im Kamin spiegelten sich in den Scheiben hinter Henri und züngelten am Fensterkreuz empor.
Bosch blieb auf den sterblichen Resten eines Geparden direkt vor dem Schreibtisch stehen. »So ein Glück, da habe ich Sie ja gerade noch erwischt.«
»Erwischt, mon cher ?« Jetzt hatte Bosch seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Henri musterte ihn. »Wie darf ich das verstehen?«
Der Schreibtischstuhl, auf dem Henri saß, war aus Ebenholz. Geschnitzte Löwen erklommen die Seiten der Lehne, und zwei von ihnen streckten sich auf dem Kopfteil aus. Ihre Mähnen flossen ineinander, und ihre Tatzen hingen herab. Aus schrägen Augen fixierten sie die Besucher, die vor das Angesicht ihres Herrn traten. Dieser Sessel gehörte in den Palast eines afrikanischen Herrschers und nicht in die Schreibstube eines verschrobenen Gelehrten. Beutekunst.
»Wohin wollten Sie denn fahren?«, fragte Bosch.
Henri zuckte
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