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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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es keine Verbindung mehr zur Außenwelt. Henri warf den Hörer auf die Gabel zurück und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
    Eine besonders starke Sturmböe schien das Schloss in seinen Grundfesten zu erschüttern. Die Fensterscheiben klirrten, und die Wolken hatten rote Ränder bekommen. Der Himmel war verschwunden. Über dem schmalen Pfad unter den alten Bäumen, der am Wolfgangsee entlang zu seinem Häuschen führte, tobte das Unwetter. Selbst wenn Bosch ein Handy besessen und ein Taxi hätte rufen können, kein Fahrer würde die Fahrt unter herabstürzenden Ästen und umfallenden Baumriesen riskieren. Zu Fuß war der Weg glatter Selbstmord.
    »Sie müssen sich der Polizei stellen, Henri.« Bosch machte ein paar Schritte zur Tür. Ein freiwilliges Geständnis war besser für Henri und vor allem für ihn selbst. Vielleicht könnte er sich dann sogar ganz aus der Sache heraushalten. »Es wird sich alles regeln lassen.« Soweit man das bei einem Mord sagen konnte.
    Henri wandte ihm sein Gesicht zu. Eine Zeit lang starrte er ihn stumm an. Schließlich fragte er: »Polizei?« Seine Stimme war voll Sarkasmus. »Glauben Sie etwa, dass mir Ihre Polizei Angst macht?«
    »Na ja …«
    »Wir müssen etwas viel Größeres fürchten, mon cher .«
    Die gewohnte, fast liebevolle Anrede erschreckte Bosch mehr als Henris Worte. Und noch etwas irritierte ihn. »Wir?«
    Aber Henri hörte ihm nicht zu. Sein Blick glitt über die Papiere auf dem Schreibtisch, wanderte hinüber zu den Antilopenköpfen an der Wand und blieb schließlich an den gekreuzten Speeren hängen. »Grand-père ist an Muskellähmung gestorben, wussten Sie das?«
    »Nein.«
    »Dabei verliert man nach und nach seine Kraft und die Kontrolle über den eigenen Körper, bis man schließlich langsam erstickt. Das Grausame ist, dass man es lange im Voraus weiß.« Henris vorquellende Augen richteten sich auf Bosch. »Grand-père ist wochenlang erstickt.«
    Bosch war, als starrte ihn nicht nur Henri an, sondern all die ausgestopften Tiere im Raum. »Das tut mir leid«, log er.
    »Ja, schrecklich, nicht wahr? Und niemand aus der Familie war bei ihm.« Henri fuhr mit dem Zeigefinger an der Schreibtischkante entlang, als prüfte er die Schärfe einer Messerschneide. »Seine Frau ist bei der Geburt seines einzigen Sohnes, meines Vaters, gestorben. Meine Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, als ich wenige Wochen alt war.« Er verstummte. »Mein Vater wollte die Maschine unbedingt selbst steuern, obwohl er nur für Sichtflug ausgebildet war. Er ist direkt in die Wetterküche vor Kap Finisterre geflogen. Habe ich erwähnt, dass die de Mortins aus der Bretagne stammen?« Hier war er wieder, der vertraute Henri, der über den Ursprung eines alten Adelsgeschlechts plauderte.
    Bosch schüttelte den Kopf. »Nein.«
    Henri fuhr sich über die Stirn. »Mein Vater war ein sehr besonnener Mann, hat man mir später erzählt, fast ängstlich. Warum hat er an jenem Abend meine Mutter zu diesem Flug überredet, was meinen Sie?«
    Wir sind nicht nur eine uralte Familie, die auf einem Schloss lebt, wir sind auch im Aussterben begriffen. Das hatte Henri zu Frau Aschenbach gesagt. Vielleicht lastet sogar ein Fluch auf uns, wer weiß? Bosch hatte sich über die humorvolle Ausrede amüsiert. Jetzt fand er sie nicht mehr lustig. Das Schicksal der Mortins trug Züge einer griechischen Tragödie. Krankheit und früher Tod hatten die Familie ausgelöscht, und ihr letztes Mitglied war zum Mörder geworden. Nichts würde von ihrem Ruhm, der sich auf das gestohlene Erbe fremder Völker gründete, bleiben.
    »Vielleicht doch ein böser Fluch?« Die Worte rutschten Bosch heraus, ehe er darüber nachdenken konnte.
    Henri knallte mit der flachen Hand so heftig auf den Schreibtisch, dass der nächste Stapel Papier zu Boden ging. »Unsinn«, blaffte er. »Tote können einem nichts tun. Außerdem«, seine Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern, »hat Grand-père die Tür zugemauert.« Er zwinkerte Bosch listig zu.
    Welche Toten? Welche Tür? Henri schien nun völlig den Verstand zu verlieren. Vor den Fenstern hinter seinem Löwenstuhl lag ein roter Schein. Schwarze Wolken stiegen zum Himmel empor.
    Auf einmal hatte Bosch das Gefühl, als hätte sich das Feuer im Kamin wieder entzündet. Er warf einen Blick über die Schulter, aber die Herdstätte war schwarz und kalt. Doch im Arbeitszimmer roch es eindeutig nach Rauch und nicht nach kalter Asche. Hastig drehte er sich wieder zum

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