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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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gestern war das gewesen. Oder vorgestern? Wie lange war sie gefangen gewesen? Etwas Warmes rann über ihre Stirn, sickerte durch ihre Brauen und zerfloss auf ihren Lidern. Vorsichtig tippte sie mit dem Zeigefinger in die klebrige Flüssigkeit. Dann steckte sie die Fingerkuppe in den Mund. Es schmeckte warm und ekelhaft nach Eisen.
    Eine Bewegung ließ sie aufschauen. Vor ihr stand Cesario. Er hatte einen Ball unter dem linken Arm und riss den Kienspan aus der eisernen Halterung über Maries Kopf. Staub rieselte herab und stach in Maries Augen. Sie rappelte sich auf und schob sich mit dem Rücken die Wand hoch.
    Cesario schenkte ihr einen hastigen Blick, für einen Moment schien er unschlüssig. Aber dann drehte er sich um und rannte mit der Fackel in der Hand in die Kapelle zurück.
    Marie stieß sich ab und lief in die Richtung, aus der sie mit Henri gekommen war. Durch die Schießscharte hoch oben in der Wand fiel nur spärliches Licht. Schatten hockten in den Nischen der zerklüfteten Wände, sie ließen den unebenen Boden trügerisch glatt erscheinen. Irgendwo verbarg sich der Durchbruch zum Refektorium.
    Der Rauch quoll bereits in den Gang. Maries Augen fingen wieder an zu tränen. Bald würde sie auch hier keine Luft mehr bekommen. Cesario in der Kapelle würgte und hustete. Plötzlich stieß er einen Schrei aus. Es klang wie ein Kriegsschrei, laut und triumphierend, und fuhr ihr durch alle Glieder. Sie ließ ihre Hand an der Mauer entlanggleiten, um die Orientierung im rauchigen Dunkel nicht zu verlieren. Da schnitt sie sich an zerbrochenen Ziegelsteinen. Vor Schmerz riss sie die Hand zurück und spürte Blut an ihren Fingern hinunterrinnen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und tastete sich an der Wand entlang. Zunächst fühlte sie nur die raue Felswand, aber dann kamen Ziegelsteine mit glatten Kanten. Mit einem Mal griff sie ins Leere, verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe wieder gestürzt. Sie hatte den Durchbruch gefunden. Vor Erleichterung brach sie fast in Tränen aus. Vor wenigen Minuten hatte sie noch den sicheren Tod vor Augen gehabt. Und nun war die Freiheit zum Greifen nah.
    Da hörte Marie hinter sich eilige Schritte. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah Cesario auf sich zustürmen. Das Feuer der Fackel wehte über seinem Kopf. Hinter ihm rollte eine schwarze Nebelwand heran. Der beißende Geruch von Holzrauch stieg ihr in die Nase. Cesario musste die Holzkisten in Brand gesetzt haben.
    Er war nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Unter dem linken Arm steckte noch immer der Ball, in der rechten Hand hielt er die Fackel. Schweiß glänzte auf seinen hohen Wangenknochen und perlte auf seiner breiten Oberlippe.
    Ohne auf den Schmerz zu achten, umfasste Marie die scharfen Ziegelkanten und zwängte sich durch das Mauerloch. Staubiger Stoff legte sich auf ihr Gesicht. Der Wandbehang. Sie ruderte mit den Armen, bis sie sich aus den schweren Falten befreit hatte. Der Teppich glitt an der Vorhangschiene zur Seite. Sie stand im Refektorium. Um sie herum herrschte ein dunkles Dämmerlicht. Aber sie hatte es fast geschafft.
    Cesario brüllte etwas auf Spanisch.
    Marie ließ sich auf alle viere fallen und kroch unter den Refektoriumstisch. Im Schatten der breiten Platte kauerte sie sich zusammen und versuchte, so flach wie möglich zu atmen.
    Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Augenblick tauchte Cesario im Durchbruch auf. Er hielt die lodernde Fackel hoch und schaute sich suchend um. Kaum zwei Meter trennten ihn von dem breiten Tisch. Marie konnte das dunkle Gesicht sehen. Er drückte ein Stoffbündel an seine Brust. Es war das Ding, das Marie auf den ersten Blick für einen Ball gehalten hatte. Rasch schwenkte er die Fackel hin und her. Maries Herzschlag beschleunigte sich. Der Feuerschein zuckte über den Boden, doch er erreichte das staubige Dunkel nicht, in dem Marie atemlos ausharrte. Cesarios Blick blieb an der offenen Tür hängen. Er schwenkte die Fackel links und rechts von der Tür und leuchtete die Wand entlang. Offenbar war er zu dem Schluss gekommen, seinem Opfer sei die Flucht geglückt. Er zuckte mit den Schultern und drehte sich zu dem Wandbehang um, der den Durchbruch wieder verborgen hatte. Das Licht der Fackel glänzte in seinen schwarzen Augen, als stünden Tränen darin. Aber sein vorgeschobenes Kinn zeigte Kälte und Entschlossenheit.
    Mit drei Schritten war er vor dem Wandbehang, streckte den rechten Arm aus und hielt die brennende Fackel an die

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