Totenmesse
herauszustemmen wäre zu umständlich gewesen.«
»Sie hatten ja auch anderes zu tun«, sagte Söderstedt. »Zum Beispiel die Andelsbank um zwanzig Millionen zu erleichtern?«
»Eine Ãlbank«, schnaubte Andreas Becker. »Haben wir nicht allmählich genug von all diesen fossilen Brennstoffen?«
Dann nahm er seinen Rucksack ab und stellte ihn neben sich auf das Katheder. Während die Pistole immer noch auf seinem Knie ruhte, öffnete er den Rucksack. Er nahm ein altes Notizbuch heraus und strich behutsam über den abgenutzten braunen Wachstuchumschlag. »Es gibt zwei davon«, sagte er. »Zwei Notizbücher. Das andere ist das wertvollere. Dies hier enthält nur â Wörter.«
Er schlug das Notizbuch bei einem Lesezeichen auf, während er fortfuhr: »Aber es hat natürlich einen emotionalen Wert. Es war nämlich Vladimirs GroÃvater, der in Stalingrad im Keller saà und mit Hans Eichelberger zusammenarbeitete. Aber das Tagebuch hat Eichelberger geschrieben.«
Dann nahm Andreas Becker das Lesezeichen und hielt es in die Höhe. »Dies hier ist übrigens das Papier Nummer zwei«, sagte er. »Das dritte befindet sich, wie Sie ja inzwischen wissen, in Venedig. Und jetzt wollen Sie vermutlich, dass ich die ganze Geschichte erzähle?«
Er musterte die A-Gruppe. Wahrscheinlich bot sie von dort vorn am Katheder einen ziemlich traurigen Anblick. Eine geduckte Truppe. Geiseln.
Becker lachte. »Verzeihung, wenn ich dramatisch werde«, sagte er. »Bei uns Fossilien ist das normal. Lassen Sie mich damit beginnen, dass ich ein Stück aus dem Tagebuch vorlese. Es wurde am Sonntag, den elften Oktober 1942, um achtzehn Uhr dreiundvierzig in einem Kellerloch in Stalingrad geschrieben.«
45
Sonntag, den 11. Oktober 1942,
achtzehn Uhr dreiundvierzig
Es war eine merkwürdige Nacht. Maxim und ich haben uns beobachtet. Wir haben gesprochen ohne Worte. Wir wissen beide, dass wir nicht weiterkommen können; wir haben unser Wissen so weit vorangetrieben, wie es ging. Wir wissen auch, dass unsere Zeit begrenzt ist; früher oder später bricht die AuÃenwelt herein, und sie wird gewalttätig sein. Wir wissen auch, dass wir aufhören können; wir wissen, dass wir uns mit dem begnügen können, was wir erarbeitet haben, uns begnügen können mit dem Prozess selbst, dem Wissen um das, was wir geleistet haben.
Aber wir wissen, dass das nicht genügt. Wir wissen, dass unsere Resultate mehr wert sind. Wir wissen, dass die Nachwelt sie braucht.
Es ist möglich, dass wir das Ende des Krieges abwarten können. Es ist möglich, dass die Vorräte ausreichen. Aber auch das genügt nicht.
Wir müssen eine andere Möglichkeit finden, das Wissen zu bewahren.
Wir müssen einen Platz finden, wo das zweite Notizbuch vor der Hölle geschützt ist. Wo es von den Flammen des Infernos nicht erreicht wird und wo die richtigen Personen es finden.
Es ist eine heikle Aufgabe. Nicht zuletzt für zwei zum Tode verurteilte Feinde in einer brennenden Stadt.
Maxim glaubt zu wissen, welches Gebäude nach dem Krieg noch stehen wird. Wir wollen versuchen, dorthin zu gelangen. Es ist nicht weit entfernt.
Aber es wird uns etwas kosten.
Es wird uns das Leben kosten.
Wir haben einen Plan. So kann man es vielleicht nennen. Wenn man sich seinen Sinn für Humor bewahrt hat. Das haben wir. Ich frage mich, ob wir es sonst geschafft hätten, unsere Gedanken zu Ende zu führen.
Das Notizbuch ist voll. Die Dämmerung ist angebrochen. Es wird Tag.
Wir müssen gefangen genommen werden. Von den richtigen Menschen. Die richtigen Menschen sind die Russen â mir graut bei dem bloÃen Gedanken. Wenn auch nicht irgendwelchen Russen. Wir müssen von Zajtsev gefangen genommen werden. Dem Meisterschützen Zajtsev. Dann kommt die Karte vielleicht auf den Weg zur richtigen Adresse.
Die Karte, ja. Maxim hat sie schon gezeichnet. Für den Fall, dass wir es bis dorthin schaffen. Für den Fall, dass wir das Notizbuch an der Stelle platzieren können, wo Maxim es geplant hat.
Er hat die Karte gezeichnet. Er hat sie in einen Umschlag gelegt, den er in einer Schublade fand und auf dem der Name des Restaurants steht. Er hat den Umschlag zugeklebt. Wir werden ihn in dieses Tagebuch legen. Und dann wird Maxim Zajtsev überreden, es an seine Adresse nach Moskau zu schicken. Maxims Sohn Fjodor soll es in Verwahrung
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