Totenmesse
nehmen. Er ist fünfzehn Jahre alt und sehr klug, sagt Maxim. Er wird verstehen, dass er es sorgfältig aufbewahren muss.
Er wird die Erinnerung an seinen Vater ehren.
Zajtsev ist ein treuer Bolschewik. Warum sollte er so etwas tun? Warum sollte er die unbarmherzigen Gesetze des Krieges brechen, um Maxim den Gefallen zu tun? Er würde uns töten, mit Trauer im Herzen würde er seinen bewunderten Feind Streppy töten und mit noch gröÃerer Trauer seinen früheren Gefährten Maxim Kuvaldin. Er würde ihn töten, aber er würde ihm einen letzten Wunsch gewähren. An diesem letzten Wunsch hängt der Rest unseres Jahrhunderts.
Wir beobachten einander im Licht meines kleinen Feuers. Maxim sieht so alt aus. Als hätte er sich zu Ende gedacht. Als hätten wir unsere letzten Kräfte verbraucht, das Letzte an Leben, das wir in uns hatten.
Er hält seinen Spaten hoch, den Spaten, mit dem er sich hereingegraben hat. Er hält ihn hoch und lacht. Der Spaten wird uns mit der AuÃenwelt verbinden.
Ich fühle, dass ich ihn umarmen muss. Allein hätte ich es nie geschafft. Man muss Mensch sein, um denken zu können. Und um Mensch zu sein, muss man gesehen werden.
Unsere Umarmung dauert lange. Du könntest mein Vater sein, Maxim.
Irgendwo habe ich einen Sohn. Ich werde ihm nicht begegnen, ebenso wenig, wie ich meinen dreiÃigsten Geburtstag erleben werde.
Wir lassen einander los, widerwillig. Wir trocknen uns gegenseitig die Tränen. Seine Tränen sind von meinen nicht zu unterscheiden.
Es sind gemeinsame Tränen.
Die Tränen eines Jahrhunderts über sich selbst.
Wir beginnen zu graben, er mit dem Spaten, ich mit einem Tablett aus dem Restaurant. Schon nach den ersten Spatenstichen dringt das Gebrüll der Stadt herein. Stalingrads Abgrundsgebrüll.
Urrah!
Und bald kommt auch das Licht. Kommen die Flammen des Höllenfeuers.
Dort hinaus müssen wir.
Wir graben weiter. Wir graben uns dem Tod entgegen. Aber auch dem Leben. Dem Leben der Kommenden.
Dem Leben meines Sohnes.
Aber der Himmel sieht nicht sehr blau aus.
46
Andreas Becker lächelte ein wenig, klappte das Tagebuch zu, legte es auf das Katheder neben sich, klopfte leicht auf den abgenutzten braunen Wachstuchumschlag und legte sich die Maschinenpistole auf dem Knie zurecht. »Es gibt noch mehr«, sagte er. »Ein kleines Stückchen Text. Aber das kann warten.«
Er räusperte sich und sah über die A-Gruppe hinweg. »Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen«, sagte er. »Ich bin Anfang der Fünfzigerjahre in Ostberlin geboren, was an sich schon eine traurige Sache ist. Meine Eltern waren Kommunisten, meine Mutter war Schwedin, wie Sie sicher wissen, Hanna Westerberg aus Göteborg. Sie wurde bald zu Hanna Becker, Doktorandin in Marxismus und Ehefrau des Philosophieprofessors Anton Becker. Ich war, mit anderen Worten, ein im wahren sozialistischen Geiste erzogenes Kind. Schon seit der Grundschule hatte ich einen guten Freund, einen wirklichen Freund, der Achim hieà und zehn Jahre älter war als ich. Er war ein Sonderling und wohnte eine Etage unter uns in einer winzigen Wohnung, die immer nach Seife roch. Er hatte keine Eltern und keine Arbeit und auch sonst nicht viel. Er war mein Bundesgenosse in den schwierigen Pubertätsjahren, und wir versprachen uns, den anderen nie im Stich zu lassen. Wir waren echte Freunde. Und ich habe ihn verraten. Wie der Verrat ein selbstverständlicher Teil meines Lebens gewesen ist.
Achim und ich schlugen unterschiedliche Lebenswege ein. Ich studierte Sprachen an der Universität und lieà mich von der Stasi anheuern. Achim dagegen war ein wenig oppositionell oder einfach nur unabhängig. Er begann als Handwerker zu arbeiten und schlug sich durch ein ziemlich einförmiges,einsames Leben. Auf seine Art war er sicher glücklich. Bis er Mitte der Achtzigerjahre einen Brief aus Moskau erhielt.
Wir hatten die ganze Zeit sporadischen Kontakt, die Freundschaft blieb bestehen, trotz unserer Unterschiedlichkeit. Seit unserer Kindheit hatten wir ein geheimes Versteck, in dem wir Dinge für den anderen hinterlegten, ein Loch in einem Baum in einem Berliner Park. Er nahm Kontakt zu mir auf und erzählte mir von dem Brief; er wusste natürlich nicht, dass ich aktiver Mitarbeiter der Stasi war.
Der Brief kam von einem Mann namens Fjodor Kuvaldin. Er hatte gerade eine letzte Todesnachricht aus Afghanistan erhalten.
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