Totenmesse
Gemälde eines Massakers, ein Bild des Leidens. Ein Chaos von Gliedern,das Picassos Guernica wie ein Idyll wirken lieÃ. Es war von Eugène Delacroix: Le massacre de Chios . In dem Augenblick hatte Nyberg beschlossen: Chios war seine Insel.
Und dann fuhren sie auf direktem Weg dorthin.
Es gab ein Buch mit dem Titel des Gemäldes, Das Massaker von Chios , fünfzehn Jahre alt und von einem damals jungen Schweden verfasst. Paul Hjelm hatte es ihm postlagernd nach Chios geschickt. Es war ein Buch über den Krieg, den inneren und den äuÃeren Krieg, und den Krieg gegen die Macht der Vergangenheit. Es war ein merkwürdiges Leseerlebnis. Es versetzte Gunnar Nyberg ins Frühjahr 1821, mitten in die ersten hektischen Jahre der griechischen Revolution. Chios ist noch immer der privilegierteste und loyalste griechische AuÃenposten der Türken. Aus Samos trifft der Revolutionsagitator Logothetis ein, fest entschlossen, die widerspenstigste der griechischen Provinzen in die Revolution hineinzuziehen. Im Frühjahr 1822 ist er erfolgreich; die Mastixlieferungen an den türkischen Hof werden eingestellt. Die Enttäuschung über den Abfall der Insel wird nur durch blinde Wut übertroffen.
Sultan Mahmud II. schickt den berüchtigten Admiral Kara Ali über den Sund nach Chios. Am 11. April 1822 läuft seine Flotte im Hafen der Hauptstadt Chios ein. Die Türken gehen an Land und machen alles nieder, was sich bewegt; ihre Gewalttätigkeit ist ebenso blutrünstig wie eiskalt. Soldaten lassen ihre breiten Schwertblätter in der Stadt wirbeln wie die Mühlenflügel des Todes, Reiter sprengen über das Hochland und bringen Tod und Verderben, aus den Tiefen der Schiffe ergieÃt sich ein Strom von Berufsmördern und fällt über die Insel her. Immer weiter hinaus ins Ãgäische Meer ändert das Wasser die Farbe. Die Todesschreie massakrierter Menschen pflanzen sich fort über die Insel, flieÃen ineinander, treiben aufeinander zu, bis eine Totenmesse sich wie eine schwarze Wolke, die niemals verschwinden wird, über die Insel legt.
Alle, die aus reinem Zufall dem Massaker entgehen, fliehen ins Landesinnere; das Kloster Nea Moni, zwölf Kilometer entfernt in den steil aufragenden Bergen gelegen, öffnet den Flüchtlingen die Tore, und als die türkische Kavallerie vor den Klosterpforten steht, tritt der Abt heraus und beruft sich auf die Religionsfreiheit. Er wird in Stücke gehackt; sein zertrümmerter Schädel wird noch heute in einem Schrein im Klosterinneren bewahrt, zusammen mit über hundert Schädeln hochgestellter Mönche.
Diejenigen, die sich nicht dem illusorischen Schutz des Klosters anvertraut haben, fliehen weiter in die Berge hinauf. Sie wissen alle, wohin sie unterwegs sind, es gibt einen Schutz; es ist weit dorthin, und die unermüdlichen Pferde der Türken sind ihnen auf den Fersen. Aber sie kennen ihr Ziel, die Türken nicht. Die Flüchtlinge aus der Stadt Chios vereinigen sich mit der Landbevölkerung, sie kommen von überall, sie alle haben nur ein Ziel. Dieser einzige Schutz ist die versteckte Felsenstadt Anavatos, die sich an den Gipfel einer steilen Gebirgsformation anlehnt und mit deren Grau zu verschmelzen scheint. Aus der Entfernung ist sie unsichtbar.
Die meisten Flüchtlinge werden von den Türken eingeholt, und ihr Blut färbt die Erde rot, in einer ununterbrochenen Linie hinauf nach Anavatos. Aber mehrere Tausend Einheimische erreichen die Stadt vor den Türken. Man bewacht das einzige Stadttor mit allen zur Verfügung stehenden Waffen, hauptsächlich einfachen Ackerwerkzeugen. Und dann wartet man.
Die Türken kommen. Sie sammeln sich in einem Ring um den steil aufragenden Felsen. Dann beginnen sie, den steinigen Pfad zum Stadttor der Felsstadt hinaufzuklettern. Die Männer und Frauen von Chios harren aus, aber alle wissen, welchen Ausgang es nehmen wird. Es dauert nicht lange, bis einer von ihnen das tut, woran sie alle denken: Er stürzt sich von dem hohen Felsen hinab. Am Ende regnet esMenschen von den Felswänden; ein kollektiver Selbstmord, wie die Welt ihn seit Massada nicht erlebt hat, bahnt sich an.
Als die Türken nach einemlangen, schonungslosen Kampf in die Stadt Anavatos eindringen, treffen sie keinen einzigen lebenden Menschen mehr an.
Kara Ali und die Türken bleiben bis in den Juni hinein auf Chios; da haben sie gut siebzigtausend Menschen getötet und über
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