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Totenmesse

Titel: Totenmesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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der Vorteil, wenn man Ordonnanz ist; man geht in den Gemächern der Macht ein und aus und sieht alles. Ich kenne unsere Kapazität: 3 350 Panzer, 7 000 Feldkanonen, mehr als 2 000 Flugzeuge, 600 000 Pferde … Es ist das größte Invasionsheer, das die Welt je gesehen hat. Wir sollten siegen. Wir sollten in zwei Monaten siegen. Doch das hat Napoleon auch geglaubt.
    Was mache ich überhaupt hier? Als gemeiner Soldat in der stolzen 6. Armee. Ich hätte Offizier werden können, sie wollten, dass ich Offizier würde. Mein Doktorvater an der Uni in Berlin, Professor von Ernst, versuchte mich zu überreden, als er im Labor stand und die Rangabzeichen an seiner Hauptmannsuniform putzte. ›Die Wehrmacht‹,sagte er, ›ist nicht der Nationalsozialismus. Das sind zwei verschiedene Dinge.‹ Was habe ich ihm geantwortet? Ich weiß es nicht mehr, etwas in der Art, dass die Forschung meine Berufung sei. Es zuckte in seinem Gesicht, nicht in seinem Wehrmachtsgesicht, sondern in seinem Professorengesicht. Seinem Doktorvatergesicht.
    Er hätte meine Arbeit nie akzeptiert.
    Jetzt habe ich sie trotzdem nicht abgeschlossen. Der Einberufungsbefehl kam fünf Monate später. Das war der Aufschub, den ich bekam, meine Kompensation dafür, dass ich nicht Offizier geworden bin. Es waren wertvolle Monate.
    Doch, jetzt fällt mir wieder ein, was er gesagt hat, und seine Professorenstimme war mit preußischem Stahl gehärtet: ›Es wird nie eine Alternative zu den fossilen Brennstoffen geben, Hans. Sie sind ein Narr.‹
    Dann verschwand er. Zwei Monate später kam aus Flandern die Todesnachricht. Ich arbeitete ohne Doktorvater weiter.
    Bereue ich, nicht Offizier geworden zu sein? Nein. Aber jetzt bin ich trotzdem hier, und manchmal vermisse ich die Privilegien der Offiziere, oder zumindest bin ich neidisch darauf. Ich wäre am liebsten gar nicht in den Krieg gezogen. Und jetzt bin ich Kanonenfutter. Es ist ein wenig absurd.
    Der Nationalsozialismus? Ja, ich kämpfe für dieses Monster. Die Alternative war der Tod. Wir waren die Gipfelstürmer der abendländischen Zivilisation, und der Gipfel war so hoch, dass wir darüber fielen. Ein messerscharfer Grat. Da oben konnte man die Balance nicht halten. Wie es zuging, werde ich nie verstehen. Aber ich werde für sie sterben. Alles spricht dafür.
    Alles.
    Es ist ein halbes Jahr vergangen seit meiner Einberufung. Ich habe noch nicht einmal meinen Sohn gesehen. Er kam vor einem Monat auf die Welt. Er hat noch keinen Namen,und ich weiß nicht, ob ich jemals erfahren werde, wie er heißt. Ich werde ihn vielleicht nie sehen, und Ariane, meine Ariane, dich sehe ich nie mehr wieder.
    Wie wir uns geliebt haben. Als ich noch lebte.
    Die Panzer füllen den Himmel mit grauem Rauch. Petroleumgrau.
    Mein Sohn.
    Irgendwo dahinter ist der Himmel ganz blau.
    Klarblau.
    Jetzt kommen sie. Wir sollen über die Grenze.

9
    Jan-Olov Hultin war Pensionär, und er war überrascht.
    Es war zwölf Uhr Mittag, und er steckte im Stau. Am gleichen Tag, an dem er in Pension gegangen war – das war noch keine zwölf Monate her –, hatte er sich geschworen, nie mehr in einen Stau zu geraten. Seine Berechnungen ergaben, dass er bereits ein ganzes Jahr seines Lebens in Staus zugebracht hatte.
    Ein Stau am Norrtull um zwölf Uhr an einem normalen Wochentag im März war an und für sich schon ein Grund, überrascht zu sein, selbst für einen so erfahrenen Stadtautofahrer, aber seine Überraschung hatte einen anderen Grund. Er war überrascht, weil er Berater war.
    Es war das absolut Letzte, was er sich hatte vorstellen können. Viel wahrscheinlicher wäre es ihm erschienen, wenn sich an seine Pensionierung eine Karriere in postmoderner Theologie oder in theoretischer Quantenchemie angeschlossen hätte. Oder wenn er Baggerführer geworden wäre.
    Doch jetzt war er Berater für einen Tag.
    Das Telefon hatte geklingelt, als er morgens in der Sauna neben seinem Haus am See Ravalen in Sollentuna nördlich von Stockholm saß. Sein Handy klingelte, wenn es hoch kam, zweimal in der Woche. Aber garantiert saß er dann in der Sauna. Seine Frau Stina reichte es ihm durch die Wasserdämpfe herein.
    Er betrachtete es, wie es dort wie auf einer Wolke schwebte. »Ich kriege einen Stromschlag«, sagte er.
    Â»Soll das jetzt für den Rest unserer Beziehung so weitergehen?«, erklang Stinas Stimme

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