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Totenmesse

Titel: Totenmesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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dreißigtausend als Sklaven verkauft. Die christliche Bevölkerung der Insel ist auf eintausendachthundert Einwohner reduziert.
    Die Bedrohung Chios’ scheint heute aus dem Inneren zu kommen; als ob zuweilen die unterdrückte Geschichte aufbräche und Funken sprühte. In den heißen Sommern verwüsten verheerende Waldbrände die Insel und erleuchten mit ihren Flammen die dunkle Vergangenheit.
    Gunnar Nyberg blickte über das rote Wasser, er hörte die Schreie, und er konnte, sosehr er sich auch bemühte, nicht verstehen, wie so viele Menschen so viele Menschen töten konnten.
    Und er sah sich in seiner eigenen Vergangenheit – als fast hundertfünfzig Kilo schweren Mister Sweden, der auf einem Podium seine eingeölten Muskeln spannte, und er sah sich, wie er vor den Augen seiner Kinder seine Frau schlug.
    Er versuchte zu verstehen. Es ging nicht.
    Etwas brach den Bann. Ein Blick. Ein kleines Streicheln über den Arm. Ein Atemhauch an seinem Ohr. Ein Flüstern. »Ist etwas, Gunnar?«
    Das Wasser über den verborgenen Ölvorkommen unter dem Meeresgrund war wieder klarblau. Die Blumenwiesen loderten nicht mehr. Er sah zu Ludmila auf. Sie beobachtete ihn mit einem nun fürsorglichen Blick.
    In diesem Blick wollte er aufgehoben sein, wenn er starb.
    Sie streichelte noch einmal seinen Arm, stand auf und sagte ein wenig lauter: »Der Makler ist jetzt da.«
    Gunnar Nyberg erhob sich und folgte Ludmila zu demMann neben einem protzigen Wagen. Dann wanderten sie zu dem kleinen Haus hinauf, das an dembewaldeten Felsrücken kaum zu erkennen war.
    Er ahnte nicht, dass nur zwei Flugstunden östlich von ihnen gerade ein neuer Krieg ausgebrochen war.
    Aufgrund des gleichen Öls, das noch im Niemandsland zwischen Griechenland und der Türkei ruhte.
    Genau vor Gunnar Nybergs Augen.

8
    Sonntag, den 22. Juni 1941,
    drei Uhr nachts
    Dort drüben liegt also Russland. Und dies ist Deutschland.
    Sie sind sich ziemlich ähnlich.
    Aber das ist ein Trugschluss. Russland ist unendlich, ein schwarzer unbekannter Kontinent. Die Sowjetunion. Ich spüre die Angst bei uns allen.
    Die Angst vor den Russen.
    Wir stehen an der Grenze. Ich versuche mir vorzustellen, wie viele wir sind. Eine ununterbrochene Kette von Soldaten von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Ich würde auf vier Millionen tippen. ›Der europäische Kreuzzug gegen den Bolschewismus‹ soll eine Grenze errichten gegen das ›asiatische Russland‹, von Archangelsk im Norden und der Wolga folgend bis hinunter ans Kaspische Meer. Dann haben wir die Ölquellen des Kaukasus eingenommen.
    Immer das Öl. Eine ganze Zivilisation, die auf fossilen Brennstoffen aufgebaut ist.
    Und eine Welt im Krieg. Dass wir es nie lernen.
    Wir wissen, was uns erwartet. Ich beobachte meine Kameraden im Schein der Nachtlampen. Wo ist die große Begeisterung? Wo ist die Siegesgewissheit von Polen, Frankreich und dem Balkan? Da ging alles so leicht.
    Sie müssen wissen, dass wir kommen. Vier Millionen Soldaten können sich nicht verstecken, auch wenn sie sich jenseits der Grenze befinden. Sie müssen doch die Zeichen gesehen haben – Panzer, die in den Wäldern warmlaufen, die Stacheldrahtverhaue, die vor den Stellungen entfernt werden, Truppenbewegungen von einer Größenordnung,die nicht mit einem Manöver erklärt werden kann – auf jeden Fall aber müssen sie ahnen, dass die Funkstille etwas zu bedeuten hat. Etwas Großes.
    Sie warten auf uns.
    Es ist drei Uhr am Morgen und fast hell. Es sind die hellsten Nächte des Jahres. Mittsommer.
    Der Juni geht zu Ende, und ich vermute, die meisten von uns ahnen, dass wir zu spät aufbrechen. Es wird Winter sein, bevor wir die Wolga erreichen. Wir werden frieren.
    Operation Barbarossa … Rotbart. Der Name lässt auf eine unendliche Verachtung der Grauen der Vergangenheit schließen. Kann es an Barbarossas Schreckensregime etwas Vorbildliches geben?
    Man fragt sich, ob der Führer die Memoiren des Generals Armand de Caulaincourt von Napoleons Russlandfeldzug 1812 gelesen hat. Am Tag vor dem Einmarsch in Russland sagte Napoleon zu Caulaincourt: ›Avant deux mois, la Russie me demandera la paix‹ – binnen zwei Monaten wird Russland mich um Frieden bitten.
    Er wurde aus dem Land gejagt, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt.
    Ich dürfte von der Operation Barbarossa gar nichts wissen. Das ist

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