Totenmond
Drei weitere Kurze hatte er in der Tasche. Er entschloss sich, gleich eine Rast an der Mühle einzulegen, eine zu rauchen und sich dort auf der Sitzbank noch einen zu genehmigen.
Dann kam er um die Ecke, wo der Spazierweg eine Biegung machte und auf die alte Holzbrücke am Stauwehr zuführte. Die Mühle lag da wie ein riesiger schwarzer Stein, der vom Himmel gefallen war. Scheinwerfer strahlten das Gebäude von unten an. Gespenstisch sah das aus. Das Wasser rauschte, und bis hierher war das hölzerne Klopfen der alten Mechanik des Mühlrads zu hören. Sah von hier aus, als hinge es voller Eiszapfen und gefrorenem Tang oder so.
Schorsch fiepte schon wieder. Kurz vor der Brücke blieb er stehen, streckte alle viere von sich und weigerte sich, auch nur einen Meter weiter zu gehen. Lütkehagen starrte nach unten auf den Köter, dessen Farbe von der des Schnees kaum zu unterscheiden war.
»Chef«, sagte Lütkehagen zu Schorsch. »Was ist los?«
Der Hund begann zu kläffen. Außerdem knurrte er jetzt. Schorsch knurrte nie – es sei denn, man fasste ihn beim Fressen an den Hintern. Aber hier stand kein Napf, und Herrchen hatte beide Hände in den Taschen vergraben und die Schlaufe der Leine ums Handgelenk gebunden.
Schließlich schaute Carsten Lütkehagen wieder nach vorne und versuchte zu erkennen, weswegen der Hund sich so anstellte. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sah zwischen den schwarzen Trägerbalken der Brücke nach vorne, erkannte aber nichts als dämmrige Dunkelheit. Nein, nicht ganz.
Da war ein Blinklicht oder so. Schließlich hörte Lütkehagen das unverkennbare Geräusch einer zuschlagenden Autotür. Das Blinklicht verschwand. Ein Motor wurde angelassen. Klang wie ein großer. Zwei rote Lampen blitzten auf. Bremsleuchten. Dann fuhr der Wagen ohne eingeschaltetes Licht los. Erst nach einigen Metern flammten die Rücklichter auf und verloren sich rasch in der Dunkelheit.
Komisch, dachte Lütkehagen und starrte auf seinen Hund, der nach wie vor knurrte und sich steif machte, als habe er eine Katze gewittert, auf die er jeden Moment losschießen wollte. Wer fuhr nachts um diese Zeit an der ollen Mühle herum und machte so einen Zinnober mit seinem Autolicht? Fast so, als wolle er nicht gesehen werden. Vielleicht Einbrecher, dachte Lütkehagen. Aber was gab es in der Mühle zu holen? Das war doch, soweit er wusste, eine Art Museum.
»Hm.« Lütkehagen beschloss, sich die Sache genauer anzusehen.
Er betrat die Brücke, zerrte Schorsch hinter sich her und hatte sie schließlich bis zur Hälfte überquert, als ihm auffiel, dass mit der Mühle etwas nicht stimmte. Er blickte zwischen der Trägerkonstruktion hindurch. Er sah zum Mühlrad. Im orangefarbenen Licht der Illumination warf es lange Schatten auf die alten Mauern.
Einen schwindelnden Augenblick lang war Lütkehagen glasklar, was er sah. Im nächsten nahm er an, dass sein wodkaumnebelter Verstand ihm einen Streich spielte. Das Licht, die Eiszapfen – manchmal erkannte man schließlich auch komische Figuren und Gesichter in den Wolken oder in Wurzeln, die beim nächsten Blinzeln wieder verschwanden. Um so ein Phänomen musste es sich handeln. Mit dem Unterschied, dass das Bild nach dem Blinzeln nicht wieder verschwand. Es gewann vielmehr an Kontur. Schließlich akzeptierte Carsten Lütkehagen, dass er offenbar doch nicht das Opfer einer winterlichen Fata Morgana geworden war.
Dort, am Mühlrad, hingen keine Eiszapfen. Es sah vielmehr so aus, als sei dort eine Rinderhälfte festgenagelt worden. Doch natürlich war es etwas weitaus Schlimmeres. An den Speichen befand sich ein nackter menschlicher Körper und drehte sich mit dem Mühlrad im Kreis. Er war weiß wie Schnee und in der Mitte blutrot. Wie aufgebrochen. Die langen Haare wurden mit jeder schrecklichen Umdrehung durch das Wasser gezogen. Jedes Mal, wenn der Schwung den Körper wieder in die Senkrechte beförderte, winkelte sich einer der Arme an. Beim Abschwung klappte er wieder aus. Es wirkte, als winke die Leiche Lütkehagen zu.
Lütkehagen gab einen erstickten Laut von sich und konnte die Augen nicht von dem grauenhaften Schauspiel abwenden. Seine Beine knickten ein. Er fiel hin und starrte auf allen vieren und mit offen stehendem Mund auf das Mühlrad. Minutenlang konnte er sich nicht bewegen. Sein Gehirn schien sich selbst ausgestellt zu haben, um das Offensichtliche nicht verarbeiten zu müssen. Schließlich bemerkte Lütkehagen, dass Schorsch ihm übers Gesicht
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