Totenmond
leckte. Kurz darauf gelang es ihm, in die Tasche seiner Jacke zu fassen, wo er nach dem Handy tastete. Er wollte die Polizei anrufen.
Sekunden später nahm er flackerndes Blaulicht wahr und überlegte, ob er sie vielleicht schon angerufen hatte. Aber er konnte sich an nichts anderes erinnern als an das Bild der Leiche an dem Mühlrad, die sich im Kreis drehte und ihm zuwinkte.
73.
D er Boden unter Alex’ Füßen schien sich in Luft aufzulösen. Es fühlte sich an, als säße sie in einem Flugzeug, das von einem Luftloch ins andere tanzte. Sie griff nach rechts und krallte sich im Ärmel von Schneiders Blouson fest, um nicht auf der Stelle umzukippen. Schneider stand da wie eine Salzsäule. Wie in Zeitlupe zog er eine Zigarettenschachtel aus der Tasche, nahm eine Zigarette mit den Lippen heraus und steckte sie an. Er stieß den Qualm in einem feinen Strahl aus den Nasenlöchern.
»Dieser Scheißkerl ist völlig krank«, sagte er und starrte auf das Mühlrad. »Komm, hilft ja nix. Gehen wir rüber.«
Alex nickte. Sie zitterte am ganzen Körper. Zu wenig Schlaf, zu viel Koffein – und vor allem zu viel Grauen, das sie gerade wie ein Tritt in die Magengrube erwischt hatte.
Die alte Mühle war ein wuchtiger Mittelalterbau aus Bruchsteinen. Sie lag an einem Weiher, vor dem sich ein Stauwehr befand. Darüber führte eine Holzbrücke, deren Eichenbohlen mit gefrorenem Schnee verkrustet waren. Der Weiher war zum Teil vereist. Ebenfalls der Bach, aber nicht der Bereich am Ende des Stauwehrs, wo das zuströmende Wasser in eine Art abschüssigen Kanal geleitet und dadurch beschleunigt wurde. Schwarz und kraftvoll rauschte es dahin und glitzerte dort, wo es in die Kegel der Scheinwerfer einiger Streifenwagen fiel.
Sie tauchten den Bereich des Zuflusses in gleißendes Licht, wo das Wasser in die moosgrünen Schaufelräder des gewaltigen Mühlrads spülte und es in träger Bewegung hielt. Es lag mit der Achse auf einem Steinklotz auf, deren eines Ende in der Wand des Hauptgebäudes verschwand.
Von der Nabe aus strebten acht Speichen aus massiven Eichenbalken nach außen. An zweien davon war ein nackter Körper befestigt, nein, gekreuzigt worden.
Der Körper war mit einer Eisschicht überzogen. Die Drehungen des Mühlrads tauchten ihn immer wieder in den Weiher, um ihn danach in die eiskalte Luft zu befördern. Schließlich gab es einen Ruck. Das Rad hielt an. Jemand musste es im Inneren der Mühle gestoppt haben, um dem entsetzlichen Schauspiel endlich ein Ende zu bereiten.
Wortlos gingen Alex und Schneider auf den Hof, wo bereits Kowarsch und Reineking standen und sich aus einer Thermoskanne heißen Kaffee eingossen. Um sie herum wuselten aufgeregt Mitarbeiter der Spurensicherung, die weiße Overalls überzogen und damit aussahen wie Gebirgsjäger. Andere luden Aluminiumkoffer aus ihren Autos. Etwas näher am Gebäude erkannte Alex Veronika mit einem Funkgerät in der einen und einem Handy in der anderen Hand. Sie dirigierte einige Streifenpolizisten. Das rotierende Licht auf einem Notarztwagen tauchte ihr Gesicht in gleichmäßigem Rhythmus in pulsierendes Blau.
»So viel«, spöttelte Schneider und paffte an seiner Zigarette, »also zu Veronikas Hauptverdächtigem.«
Aus den Augenwinkeln beobachtete Alex, wie zwei Männer der Spusi das Mühlrad mit der Leiche filmten und dann über eine Mauer zu dem Steinblock balancierten, auf dem die wuchtige Achse auflag. Den gleichen Weg musste der Mörder für seine grausame Inszenierung gewählt haben – eine Schau, die aus seinem bisherigen Modus wie ein Ausrufezeichen herausstach. Alex war sich ziemlich sicher, dass genau das seine Absicht gewesen war. Es ging ihm nicht darum, das Opfer zu verhöhnen. Das Opfer war ihm gleichgültig, es war für ihn nur Mittel zum Zweck. Es ging ausschließlich darum, die Polizei zu verspotten, die zu spät gekommen war. Andererseits schienen sie ihn dieses Mal nur knapp verfehlt zu haben. Und es gab einen Augenzeugen.
Schneider sagte: »Carsten Lütkehagen, Anfang fünfzig. Kowarsch hat ihn bereits befragt. Der Mann wird gerade beim Notarzt etwas aufgepäppelt, scheint aber ein dickes Fell zu haben. Er hat einen Wagen wegfahren sehen. Konnte das Fabrikat nicht nennen, hat aber Stein und Bein geschworen, dass es kein Volkswagen war.«
»Woher weiß er das so genau?«
»Der Mann hat bis vor kurzem ein traditionsreiches Lemfelder Autohaus geführt. Der kennt sich aus. Er will morgen auf die Wache kommen. Kowarsch spricht dann noch mal
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