Totenmond
Dörfern und auch mit seinem Keyboard als Alleinunterhalter. Ganz oft hat er mit den Kindern Platten gehört und ihnen alles Mögliche darüber erzählt. Ich fand zwar immer, dass sie noch viel zu klein dafür waren, aber …« Die Frau machte eine abwinkende Bewegung.
Alex fragte: »Hat Ihr Mann den Harald nur das eine Mal geschlagen?«
»Aber natürlich nicht!«, sagte Ingelore Frentzen entrüstet. »Harald brauchte eine harte Hand. Man musste sehr streng mit ihm sein. Er war so … so ganz anders als unser Mäxchen. Und schließlich kam dann dieser schreckliche Abend.«
Alex rutschte näher an die Frau heran und knetete sich die Hände, an denen die Knöchel weiß hervortraten. »Bitte erzählen Sie uns davon.«
Die Frau seufzte tief. »Es ist nicht leicht …«
»Versuchen Sie es bitte trotzdem.«
»Mein Rudi, Gott hab ihn selig, hatte Nachtschicht, und ich war alleine mit den Kindern zu Hause. Ich habe ferngesehen und mit einem Mal Brandgeruch aus dem oberen Stockwerk bemerkt. Als ich hinauflief, habe ich mit Entsetzen gesehen, was Harald mit Mäxchen machte. Es war schrecklich.«
»Bitte fahren Sie fort«, murmelte Schneider.
»Das Bett stand in hellen Flammen. Und dann sah ich Mäxchen darin liegen. Harald hatte ihn überall mit einem Messer geschnitten. Er wollte ihn verbrennen. Ich bin hineingelaufen und hab den Kleinen gerettet, bevor ich die Feuerwehr verständigt habe.«
Alex wollte schlucken, doch es gelang ihr nicht. Sie wechselte einen Blick mit Schneider. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, was an der Kombination aus überhitztem Wohnzimmer und Steppblouson liegen musste. Vielleicht auch deswegen, weil ihm wie Alex immer mehr dämmerte, was für eine Persönlichkeit Ingelore Frentzen hier entwarf – eine, die in ihrer Kindheit und Jugend bereits disponiert worden ist, sich Jahre später zu einem Mörder zu entwickeln.
Ingelore Frentzen sprach weiter. »Mäxchen starb einen Tag später. Nachdem Harald aus dem Krankenhaus zurück war, habe ich nie wieder ein Wort mit ihm gesprochen, nie wieder.«
Schneider fragte: »Sie wollen damit sagen, dass Harald seinen Bruder getötet hat?«
Die Frau nickte. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Band zusammengepresst. Ihr Blick wurde wieder glasig, und Alex ahnte, dass der Moment der Klarheit vorüber war und Ingelore Frentzen bald wieder in ihren Dämmerzustand zurückgleiten würde.
»Warum musste Harald ins Krankenhaus?«
»Na, wegen seiner Beine. Eines war gebrochen. Er war aus dem Fenster gesprungen, um den Flammen zu entkommen.«
Alex begriff mit Entsetzen. »Sie … Sie haben Mäxchen gerettet, aber Harald nicht?«
»Ich habe die Tür zum Kinderzimmer abgeschlossen. Harald sollte seine gerechte Strafe bekommen und am eigenen Leib erleben, was er da angerichtet hatte.«
Schneider rieb sich übers Gesicht. Er schien nicht glauben zu können, was er da gerade hörte.
»Haben …«, fragte Alex heiser, »… haben Sie Bilder von Mäxchen und Harald, die Sie uns zeigen könnten?«
»Alex …« Schneider wollte einhaken, aber sie winkte ab.
Schwerfällig erhob sich die Frau aus dem Sessel und ging zielstrebig auf das mit den LPs gefüllte Regal zu, aus dem sie einen dicken braunen Lederband herauszog. Sie legte das Fotoalbum auf den gekachelten Couchtisch und schlug die erste Seite auf. Als Alex die ersten Bilder sah, hatte sie das Gefühl, als griffe eine Hand nach ihrem Herzen und quetschte es zusammen.
»Das sind Mäxchen und mein Mann Rudi auf der Terrasse. Mäxchen war damals noch sehr klein«, sagte Ingelore Frentzen lächelnd. Ihr fauliger und schneidend nach Schnaps riechender Atem und ihr durchdringender Geruch nach Schweiß und Urin schlugen Alex jetzt unmittelbar entgegen, doch sie nahm nichts davon bewusst wahr. Die Bilder in dem Album waren übermächtig.
Das erste Foto zeigte einen Mann mit behaartem Bauch und dickem Schnäuzer fröhlich lächelnd in einem aufblasbaren Planschbecken sitzend. Gummienten schwammen darin herum. Er winkte in die Kamera. Zwischen seinen Beinen saß Mäxchen in einer knallroten Badehose. Er trug Schwimmflügel und starrte ins Wasser. Auf einem weiteren Bild saß Mäxchen in einem Kinderstuhl am Esstisch. Sein Mund war mit Nutella verschmiert. Vor ihm stand ein Teller mit Butterbroten, und Rudi Frentzen wischte ihm grinsend den Mund ab. Ein weiteres Bild war mit Selbstauslöser aufgenommen worden. Es zeigte eine bedeutend jüngere und wesentlich gepflegtere Ingelore mit ihrem Mann auf
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