Totenmond
gegangen?«
»Sie haben ihn abgeholt. Ich will ihn nicht wiedersehen.«
»Wer hat ihn abgeholt?«
»Die, die ihn uns auch gebracht haben.«
»Das Jugendamt?«
Die Frau nickte.
»Harald war nicht Ihr leibliches Kind, wie wir wissen. Und wir sind hier, weil wir wirklich dringend in einer sehr wichtigen Sache mit ihm sprechen müssen.« Alex rang sich ein Lächeln ab. »Vielleicht erzählen Sie uns einfach ein wenig über ihn?«
Ingelore Frentzen hob den Blick und betrachtete Alex eine Zeitlang schweigend. »Wenn Sie den Fernseher bringen, dann müssen Sie ihn mir auch einstellen. Ich kann das nicht, der Rudi ist ja nicht mehr da.«
Alex nickte. »Das machen wir, Frau Frentzen. Rudi ist Ihr Mann gewesen? Der Vater von Harald? Erzählen Sie uns von beiden ein wenig? Dann holen wir auch gleich den Fernseher.«
»Mein Mann Rudi und ich«, begann Ingelore Frentzen und starrte durch Alex hindurch, als sei sie aus Glas, »hatten uns so sehr Kinder gewünscht. Aber …«, sie stockte und vollendete den Satz in einem melodiösen Singsang, »… aber ich konnte nun mal keine mehr bekommen, und unser erster Sohn, Mäxchen, sollte doch ein Brüderchen haben.« Schneider wollte gerade nachhaken, aber Alex bedeutete ihm, die Frau weitersprechen zu lassen. »Wir entschlossen uns zu einer Adoption, und Harald kam aus dem Heim zu uns, als er zwei Jahre alt war.«
Schneider fragte dazwischen: »Das Jugendamt in Bad Oberwalde war damals zuständig?«
Die Frau nickte. »In Bad Oberwalde war ich früher immer gerne einkaufen. Aber die Füße machen nicht mehr mit.«
»Das Heim – war das der Luisenhof bei Lemfeld?«
»Luisenhof.« Ingelore Frentzen nickte immer noch.
»Ist Ihnen etwas darüber bekannt gewesen, dass Harald noch einen Zwillingsbruder hatte?«
»Ja, ja, die Zwillinge. Aber es spielte ja keine Rolle – damals nicht und später sowieso nicht mehr.«
Zwillinge, dachte Alex. Also stimmte es. Zwei Kinder, zur Adoption freigegeben, vielleicht von Geburt an getrennt, und niemand erinnerte sich an das, was er im Alter von zwei Jahren erlebt oder ob er zu der Zeit mit einem Bruder zusammengelebt hatte – ausgerechnet im Luisenhof. Alex überlegte, dass sie noch heute von der Behörde erfahren müssten, wie das damals abgelaufen war. Warum die Zwillinge Elmar und Harald weggegeben worden waren – und wie sie davor mit Nachnamen geheißen hatten. Aber im Augenblick hatte Ingelore Frentzen Alex’ volle Aufmerksamkeit. »Können Sie uns genau erklären, warum Harald abgeholt wurde?«
»Müssen Sie denn den Fernseher abholen? Ich sehe doch so gerne den Stadl.«
»Das müssen wir leider, ja, um ihn zu reparieren. Aber das geht sicher sehr schnell. Wie war das denn damals, als der Harald wegkam?«
Frentzens Blick verlor sich im Nichts. »Es war doch alles so schön. Und Harald war wie Mäxchen ganz unser Kind, ihm hat es niemals an etwas gemangelt. Es war gar nicht nötig, dass sie sich immer stritten. Der Rudi sagte immer, der Harald hat den Teufel im Leib.« Sie gab ein Seufzen von sich, mehr ein Keuchen. »Der Rudi hatte wohl recht. Wir hatten Kaninchen, Rudi hielt sie im Garten. Eines Tages waren sie alle tot. Wir dachten zuerst, der Fuchs hätte sie geholt. Überall war Blut. Aber ich wusste, dass er es gewesen war: Harald.«
»Woher wussten Sie das?«, hakte Alex nach.
Die Frau hob den Blick und sah Alex an. Für einen Moment waren ihre Augen nicht mehr trüb, sie waren hell und wach. Ein Moment der Klarheit, dachte Alex. Ingelore Frentzen sagte: »Mütter wissen so etwas. Außerdem hatte kurze Zeit davor einer unserer Nachbarn, ein Landwirt, Harald einmal nach Hause gebracht. Er hatte zwei kleine Kätzchen in einem Eimer ertränkt und war dabei erwischt worden. Er hat auch den Hamster eines Nachbarjungen auf ein Brett genagelt.«
Die Worte trafen Alex wie ein Stromschlag. »Wie haben Sie und Ihr Mann darauf reagiert?«
»Rudi hat ihn windelweich geschlagen. Das hatte er ja auch verdient.«
Wieder fiel Alex’ Blick auf die Regale voller Schallplatten, und dieses Mal beschlich sie ein extrem ungutes Gefühl. Eine Vorahnung, die blitzartig zur Gewissheit wurde. Zur Gewissheit, genau am richtigen Ort zu sein. Sie deute in Richtung der Schränke und fragte: »Wem gehören die vielen Schallplatten dort?«
»Oh, das sind noch die von Rudi. Ich konnte mich nicht davon trennen.«
»Sieht aus, als habe er viel Musik gehört.«
»Er war geradezu besessen davon. Früher war er als DJ unterwegs auf den
Weitere Kostenlose Bücher