Totenmond
erinnerte sich an früher.
»La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zu«, hatte seine Mutter früher gesungen und dabei seinen kleinen Bruder auf dem Schoß gewiegt. Sie sang es immer nur für ihn, den Bruder. Den anderen. Wenn Mama den anderen ins Bett gelegt hatte und wieder aus dem Kinderzimmer gegangen war, stand der Junge oft noch lange am Fenster und betrachtete das bleiche Rund am Himmel.
Er wusste, dass dort der Mann im Mond leben sollte. Aber der Mann im Mond wachte nicht über den Schlaf. Er lauerte da oben, denn er wollte Kinder fressen. So wie Peterchen und Anneliese in Peterchens Mondfahrt. Papa hatte ihm das erzählt. Und davon, dass der Mondmann die ausgerissenen Beinchen vom Käfer Sumsemann nicht herausrücken wollte.
Ja, der Mann im Mond war ein ziemlich übler Kerl. Oft hatte der Junge vor lauter Angst deswegen ins Bett gemacht. Wenn Papa das herausgefunden hatte, was er jedes Mal tat, dann hatte er den Jungen bei den Ohren aus dem Zimmer gezogen, die Musik laut gestellt und ihn mit dem Ledergürtel verdroschen. Dabei hatte der Junge sich jedes Mal tief in die Musik versenkt, war fortgedriftet mit den Noten und hatte sich auf die Zunge gebissen, bis Blut hervorquoll, um nicht schreien zu müssen.
Erst viel später hatte er begriffen, dass der Mond nicht immer beängstigend war. Er konnte einen auch stark machen und in etwas verwandeln, das in der Lage war, jeden Schmerz zu überstehen. Etwas Mächtiges, das den Gejagten zum Jäger machte. Aber der Mann im Mond forderte seinen Tribut. Am Ende war das Mondlicht wie Heroin. Ein grausamer Gott, dem er opfern musste, um im Gegenzug Kraft zu erlangen. Am Anfang hatte er sich noch mit Maikäfern zufriedengegeben, denen er die Beine ausriss. Später wollte er Kleintiere. Hamster, Meerschweinchen, Katzen, Hunde. Schließlich hatte auch das nicht mehr gereicht.
Ja, dachte der Mann und starrte weiter aus dem Fenster. So war es überall auf der Welt. Ein Geben und Nehmen. Fressen und gefressen werden. Ein Teufelskreis. Das eine existierte nicht ohne das andere, und ein Jäger wie er brauchte einen mächtigeren Gegner, um sein Dasein zu rechtfertigen. So wie in den alten Comics, in denen er zum ersten Mal von der Kraft des Mondes gelesen hatte. Nun, möglicherweise hatte er diesen Jäger nun endlich gefunden. Genauer gesagt: die Jägerin.
Der Mann nahm das Zeitungsfoto zur Hand. Er hatte es ausgeschnitten und laminiert. In der Unterzeile stand: »Profilerin der Lemfelder Polizei: Alexandra von Stietencron.« Sein Daumen rieb ihr über das Gesicht. Fast zärtlich. Er war heute Nachmittag vor lauter Neugierde an den alten Schliemannschen Werken vorbeigefahren und hatte dort die Polizeiwagen gesehen. Jetzt stellte er sich vor, wie Alexandra in der Ruine sein Werk betrachtete. Vielleicht machte sie sich gerade jetzt über ihn Gedanken. Schlaflos in der Nacht.
Es würde aufregend werden, dachte der Mann. Sehr aufregend.
14.
A lex lag frisch geduscht und mit einem Espresso auf dem wuchtigen Sofa ihrer Dachgeschosswohnung. Die Akte »Nele Bender« ruhte auf ihrem Schoß. Kater Hannibal streckte sich auf dem Laminatboden aus. Er schien zu überlegen, ob er die Wagenfeld-Lampe auf dem Schreibtisch angreifen sollte, deren Kabel sich verdächtig zu bewegen schien, hatte dann aber offenbar doch zu viel Respekt vor Bauhausdesignern und trottete zum Sofa.
Es war beinahe Mitternacht. Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen. Das schräge Dachfenster war wie von Geisterhand mit einer dicken weißen Schicht bedeckt worden. Joss Stone sang aus den Boxen der kleinen iPod-Docking-Station eine Swingversion von Let it snow, und Alex’ Knöchel puckerte im Takt dazu. Es war schlimmer mit den Schmerzen geworden, weswegen Alex sich vorgenommen hatte, morgen früh einen Facharzt zu bitten, einen Blick auf das Gelenk zu werfen. Vielleicht diesen Dr. Pfeiffer – er hatte seine Praxis gleich um die Ecke in Alex’ Straße.
Alex schlug die Akte auf. Nele Bender hatte ihren neunzehnten Geburtstag nicht mehr erleben dürfen – und viele der Lebensjahre davor mussten schrecklich gewesen sein. In der Kindheit war sie von alkoholkranken Eltern geschlagen und vom Onkel sexuell missbraucht worden. Nachdem das Jugendamt sie im Alter von neun Jahren aus der Familie genommen hatte, war sie in einer betreuten Siedlung für Kinder und Jugendliche aus Problemfamilien untergekommen – dem Luisenhof. Der Name der sich in kirchlicher Trägerschaft befindenden Einrichtung sollte an
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