Totenmond
Fürstin Luise erinnern, die im neunzehnten Jahrhundert in Lemfeld eine vorbildliche soziale Ader bewiesen hatte und noch heute namentlich im Titel vieler Einrichtungen in Erscheinung trat. Wie Alex aus der Ortschronik wusste, wurde Luise sogar die Erfindung des Kindergartens zugeschrieben – Nele hatte nach den Akten einen solchen jedoch nie von innen gesehen, bis die Jugendbehörde zu Zwangsmaßnahmen griff und durchsetzte, dass das Kind eine Kita besuchte. In Neles Schulzeit war schließlich ein Missbrauch an dem Mädchen offenkundig geworden.
Im Luisenhof war Nele zunächst in die Kindereinrichtung gekommen, später in die Jugendgruppe gewechselt und dann in eine betreute Wohngruppe, wo sie sich geradezu vorbildlich entwickelt und ihr Abitur mit einem Notendurchschnitt von 2,1 bestanden hatte. Danach hätte ein Coaching mit Pädagogen erfolgen sollen, um Nele in einen Job oder in ein Studium zu führen.
Aber ein Mörder hatte einen anderen Plan mit ihr gehabt. Und im Zuge der Ermittlungen hatte sich herausgestellt, dass Nele – sehr zum Schock ihrer Betreuer – im Verborgenen ein Leben geführt hatte, das so gar nicht zu ihrer ansonsten vorbildlichen Entwicklung zu passen schien. Sie hing in der Drogenszene rum, hatte zahlreiche Männerbekanntschaften, oft mit Älteren, von denen sie vermutlich auch Geld annahm. In der Vernehmung hatte ein Gruppenpädagoge namens Gregor Potthast angegeben, er hätte das bei einem Mädchen wie Nele nie für möglich gehalten.
Der Mord war, wie Schneider schon berichtet hatte, in dem Jahr geschehen, bevor Alex nach Lemfeld kam. Er lag somit mehr als zwei Jahre zurück, und die Suche nach dem Täter war im Wesentlichen ergebnislos geblieben.
Alex legte die Akte beiseite und stand auf, um den Computer einzuschalten und die DVD von Schneider einzulegen. Mit einigen Mausklicks installierte sie die Software für das Viewer-Programm. Schließlich lud sie die Datei der Spherocam mit den Aufnahmen aus den Möbelwerken. Ihr Zeigefinger klickte die linke Maustaste und hielt sie fest. Sie versetzte die virtuelle Kamera in Bewegung.
Der Bildschirm zeigte eine in den Dimensionen leicht verzerrte Ansicht des Tatorts. Alex scrollte zum Kesselraum der Schliemannschen Möbelwerke, wo sich das Opfer befunden hatte. Sie bewegte den Cursor zu einem Lupensymbol in der Werkzeugleiste. Stufenlos zoomte die Kamera an die Mauer heran, bis die in Blut gemalten Symbole den Bildschirm ausfüllten – ein Halbkreis mit Sternen, einige Kreuze, spitzwinklige Dreiecke, Wellenformen, Punkte.
Alex fertigte einen hochauflösenden Ausdruck von der Inschrift an. Dann stellte sie den Computer wieder aus und nahm ihr Moleskine-Notizbuch und einen Block mit Post-it-Klebezetteln zur Hand. Sie liebte diese nützliche Erfindung und hatte bereits während der Vorbereitung aufs Abitur eine geradezu emotionale Bindung zu den Post-its entwickelt, mit denen sich herrlich Struktur in das Chaos von Lehrbüchern und Kapiteln bringen ließ. Außerdem taugten die Dinger zu noch viel mehr – sie konnten die Arbeit, das ganze Leben systematisieren. Alex ließ sich wieder aufs Sofa fallen und streckte sich aus.
Sie dachte darüber nach, wen sie zu den Zeichen befragen könnte. Möglicherweise gab es an einer Uni einen Experten für Semantik, vielleicht konnte auch die Völkerkundliche Abteilung des Lemfelder Landesmuseums mit einem Hinweis weiterhelfen. Sie würde dort morgen einmal anrufen.
Alex machte sich eine Notiz und überlegte, dass in den Unterlagen zum Fall Bender eine fundierte Fallanalyse fehlte. Wie es schien, hatte den Kollegen damals entweder die nötige Sensibilität dafür gefehlt, eine solche Untersuchung beim LKA oder einem privaten Institut zu beauftragen, oder es war aus Budgetgründen nicht erfolgt. Alle Berichte aus der Gerichtsmedizin, toxikologische und histologische Befunde lagen jedenfalls vor – und wenn morgen die Obduktion von Antje an Huef stattfinden würde, konnte man Vergleiche anstellen.
Alex notierte außerdem, dass eine Suche nach ähnlich gelagerten Verbrechen in den Polizeidatenbanken sowie eine aktuelle ViCLAS-Recherche nötig wären – schließlich sah bislang alles danach aus, als habe man es mit einem Serientäter zu tun. Die Abkürzung ViCLAS stand für »Violent Crime Linkage Analysis System« – eine bundesweite Datenbank für Gewaltverbrechen. Serientäter waren zwar meist in bestimmten Umkreisen um ihren Ankerpunkt aktiv, aber vielleicht war der Mörder nach Lemfeld
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