Totenmond
öffnete Alex erst zu Hause.
Nach dem Ankommen hatte sie zunächst Hannibal ausgiebig beschmust und sich anschließend eine heiße Dusche gegönnt. Schließlich hatte sie für das neue Dior-Kleid einen Ehrenplatz im Kleiderschrank gesucht. Dort hingen alle Kleidungsstücke fein säuberlich nach Farben sortiert auf den Kleiderbügeln oder lagen in DIN-A4-Größe akkurat gefaltet auf den Regalbrettern. Bei der Gelegenheit hatte Alex einen Blick auf ihre Schuhsammlung geworfen – und beschlossen, dass ein Shoppingtrip unumgänglich war, um ein Paar passende Pumps zu dem Kleid zu erstehen. Schließlich war sie in ein T-Shirt, eine dicke Jogginghose sowie Stricksocken geschlüpft und hatte auf dem Flur das Geschenkpapier von dem Päckchen entfernt. Wie erwartet enthielt es einen Karton mit Patronen im Kaliber 9 x 19. Sie nahm eine Handvoll heraus. Schwer wogen sie in der Hand.
Wie in Butter glitten sie in das Magazin. Selbst randvoll beladen, lag die Glock leicht in der Hand. Elegant. Machtvoll. Kompakt. Modern. Duftend nach Eau de Ballistol – Waffenöl. Wie würde es sich anfühlen, wenn die Pistole in ihrer Hand zuckte und Blei spuckte? Sie würde es bald bei einer Runde im Schießkino erfahren. Dort würde sie auch den Laser des Tactical Light justieren. Außerdem müsste sie einen Heimtresor kaufen, einen kleinen Waffenschrank, wo sie die Glock aufbewahren konnte, und sich so schnell wie möglich um das Umschreiben der Besitzkarte bemühen.
Alex hatte die Waffe gerade zurück in die Kunststoffbox gelegt, als sich ihr Handy meldete.
Jan.
Alex’ Muskeln brannten mit einem Mal vor Aufregung.
»Weihnachtsfest gut überstanden?«, fragte er.
»Ja, danke, überraschenderweise schon. Meine Familie ist eigentlich etwas, hm, schwierig. Ich hatte mich auf das Schlimmste vorbereitet, aber es war wirklich schön.«
Kaum zu glauben, dass sie so etwas einmal sagen würde – fast schon surreal.
»Ist doch toll. Familie ist etwas Wichtiges. Man sollte sie genießen, solange man noch eine hat.«
Alex knabberte an der Unterlippe. Was wollte Jan ihr damit sagen? Oder hatte er es nur zu sich selbst gesagt? Sie begnügte sich mit einem »Mhm«, schob mit dem Fuß einige Tannennadeln zusammen, die Hannibal in ihrer Abwesenheit aus einem Adventsgesteck gezupft hatte, und fragte dann: »Und selbst? Auch reich beschenkt worden?«
»Ach, na ja, das Übliche halt.« Alex sah ihn förmlich abwinken. »Ich mache mir nicht so viel aus Weihnachten.«
Noch so einer, dachte Alex und musste schmunzeln. Noch so einer, der Single war und sich insgeheim wahrscheinlich nichts mehr wünschte als Gemeinsamkeit unter dem Weihnachtsbaum, Harmonie und eine Perspektive für sein Leben.
»Ganz ehrlich?«, fragte Alex.
Jan zögerte einen Moment. »Nein«, sagte er. »In Wahrheit gibt es nichts Tolleres, als Weihnachtsmann zu spielen.« Er gab sich alle Mühe, das Eingeständnis ein wenig ironisch klingen zu lassen, um es herabzuspielen.
»Stelle ich mir nett vor«, sagte Alex. »Ein Bluesmusiker im roten Mantel. Du hast doch einen?«
»Aber natürlich. Alles, was dazugehört. Bart. Rute. Das komplette Paket.«
Alex lachte. » Das würde ich ja gerne mal sehen.«
»Kein Problem. Soll ich ihn Silvester anziehen?«
»Kommt darauf an, wohin du mich ausführen möchtest.«
»Tja, mal sehen.«
Alex stellte sich vor, wie sich Jan durch die Haare wuschelte.
»Wohin denn?«
»Ach, es gäbe da verschiedene Dinge, mal sehen …«
»Heißt das, du hast noch keine Karten für gar nichts?«
»Karten?«
»Für einen Ball. Eine Party. Was auch immer.«
Jan zögerte, und Alex wusste, dass die Antwort »nein« war. Aber sie wollte ihn nicht beschämen und auch nicht darüber diskutieren, denn wenn sie das Diskutieren begann, fing sie meist das Zicken an – und es war nun einmal an der Zeit, dass sie lernte, im richtigen Moment die Klappe zu halten. Also sagte sie: »Weißt du, was, ich lasse mich einfach überraschen.«
»Prima«, sagte Jan und klang erleichtert. »Soll ich dich abholen?«
»Nein, sag mir deine Adresse.«
Jan tat es. »Ich freue mich«, fügte er hinzu.
»Ich mich auch«, antwortete Alex.
Schließlich verabschiedeten sie sich. Nachdem Alex das Handy zur Seite gelegt hatte, sah sie sich im Garderobenspiegel wie ein Honigkuchenpferd grinsen. Mit klopfendem Herzen ging Alex in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich ins Bett zu legen. Aber jetzt war Alex zu aufgedreht dazu.
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