Totenmond
Außerdem warteten irgendwo da draußen ein Mörder, eine wahre Bestie, und ein Opfer, das bislang noch nicht gefunden worden war.
Bestie. Monster.
Es fiel naturgemäß schwer, die bizarren Taten eines Mörders wie des in Lemfeld aktiven emotionslos und sachlich zu betrachten – zumal er darum bemüht schien, eine persönliche Verbindung zu Alex aufzubauen. Aber hinter jeder dieser Bestien musste man auch den Menschen sehen, in dessen Entwicklung etwas falsch gelaufen war.
Alex ging mit einem Kaffee zum Schreibtisch, riss einen neuen Block Post-its auf und griff nach einem Kugelschreiber.
Die meisten Serientäter führten nach Erfahrung der Polizei ein unauffälliges Nischenleben als soziale Außenseiter, wurden von Fehlschlägen, Stigmatisierungen und Versagen geprägt, litten an Persönlichkeitsstörungen, Minderwertigkeitsgefühlen oder Missbrauchserfahrungen. Der Durchschnittstäter war zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt, männlich, ledig oder geschieden, hatte keine Kinder, stammte aus Problemfamilien, verfügte über eine durchschnittliche bis unterdurchschnittliche Intelligenz und schlechte Bildung. Hochintelligent, gebildet, von Macht besessen – diese Attribute trafen auf die wenigsten zu. Wenngleich Alex glaubte, dass die Polizei in Lemfeld es gerade mit einem solchen zu tun hatte. Diese Psychopathen waren hochgefährlich, oft charismatisch und einnehmend. Sie tarnten sich wie ein Chamäleon. Niemand blickte hinter ihre Fassade. Und wenn, dann sah man dort nur eine Welt aus Eis, in der es ausschließlich Raum für den gab, der die Maske trug.
Sein planvolles Vorgehen war charakteristisch für diesen Tätertypus. Dass er Kontakt zur Polizei aufgenommen hatte, sprach dafür, dass er seine Taten in den Medien verfolgen wollte. Oft handelte es sich bei solchen Menschen um regelrechte Polizeifans. Der Mann ging vermutlich einer festen Beschäftigung nach und lebte sozial angepasst, dachte Alex und klickte nachdenklich mit dem Kuli.
Er verwendete offenbar technisches Equipment – Alex dachte an die Abdrücke von Stativen, die Spuren von Kabeln. Dafür brauchte man Geld. Sein Faible für das Filmen dürfte den in Frage kommenden Täterkreis weiter einschränken. Zudem verfügte er über Praxis. Und hatte seine Vorlieben entdeckt. Eine persönliche Handschrift entwickelt. Im Fall von Antje an Huef hatte er genau gewusst, was zu tun war. Die Akte Bender sprach die gleiche Sprache. Beide Taten wirkten nicht dilettantisch, und wenn man bei einem Menschen Organe entfernte, musste man sich auskennen. War vom Fach oder hatte bereits anderswo praktische Erfahrung gesammelt. Aber warum die lange Pause zwischen den beiden Morden? Und wie und wo hatte der Mann seine Techniken trainiert?
Alex trank einen Schluck Kaffee und skizzierte eine vereinfachte Version der Zeichen, die der Täter an den Tatorten hinterlassen hatte. Was mochten sie bedeuten? Vielleicht würde sie bald darauf eine Antwort vom Landesmuseum erhalten. Marc Berner würde sich sicherlich melden, sobald er eine Antwort von dem Spezialisten aus der Schweiz hatte.
Und was hatten die Songtexte mit den Morden zu tun? Es musste eine Verbindung zwischen den bereits bekannten Fällen und den Botschaften geben: eine Art Code.
Sie stützte das Kinn mit dem Handballen ab, tippte mit dem Kuli auf dem gelben Block herum und dachte nach. Der Täter hatte seine Briefe jeweils vor den Morden abgeschickt und der Polizei damit stets etwas Handlungsspielraum gelassen, in dem man ihn hätte stoppen können. Er brachte die Polizei auf eine Fährte zu den Morden. Ein perfides und riskantes Spiel nach seinen Regeln – sowie jedes Mal ein erneuter Triumph, wenn es der Polizei nicht gelang, den Killer zu ermitteln.
Alle Lieder hatten mit Gefahr und Tod zu tun – sehr direkt bei Stings Moon over Bourbon Street. Fast schien es, als habe der Täter ihn sich selbst gewidmet. Beim Zuhören dachte man unweigerlich an einen Jack the Ripper, der durch die Straßen von New Orleans schlich. Es war von den Augen des Biestes die Rede, versteckt unter einer Hutkrempe. Vom Licht der Straßenlaternen, vom Lauern in den Schatten. Und es war die Rede vom Mond. Aber der Mond schien überall auf der Welt.
Was hatte der Bad Moon im Fall von Antje an Huef zu sagen? Alex zog die Computertastatur zu sich heran und öffnete ein Online-Wörterbuch. Dann gab sie einem Post-it-Zettel die Überschrift »Antje an Huef, Schliemannsche Werke« und notierte Stichworte aus dem Text von
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