Totenmond
hatte, was er mit den Liedern sagen wollte. Die Schwachköpfe vor ihr hatten damit nichts anzufangen gewusst. Ansonsten hätten sie längst entdeckt, was er vor einiger Zeit in dem verlassenen Haus plaziert hatte. Er wusste verlässlich, dass dort noch alles an Ort und Stelle war. Erst kürzlich hatte er sich dessen vergewissert.
Sein Herz machte einen Sprung, als er am Fenster eine Bewegung ausmachte. Er erkannte den Umriss eines Körpers. Sie. Alexandra. Es hatte den Anschein, als würde sie zu ihm herabsehen. Der Mann gab vor lauter Aufregung ein ersticktes Geräusch von sich. Hatte sie ihn entdeckt? Blitzartig verschwand die Silhouette wieder.
Der Mann überlegte, dass er jetzt doch besser gehen sollte. Er tat es. Und kicherte dabei wie ein kleines Kind.
30.
A lex stürzte in den Flur, öffnete den Glock-Koffer, schob ein volles Magazin in den Schacht der Waffe und lud sie durch. Sie sprang förmlich in ein paar Ugg-Boots, riss die Daunenjacke von der Garderobe und dann die Wohnungstür auf. Hastete die Treppen hinunter, wobei sie sich im Laufen die Jacke anzog. Sie schlitterte im Erdgeschossflur über den rutschigen Marmor, öffnete die Haustür und rannte ins Freie. Sprintete mit nach vorne gestreckter Waffe um die Ecke und hastete auf den Bürgersteig.
Er war menschenleer. Die Straße ebenfalls. Niemand stand mehr unter der Laterne. Alex wirbelte herum. Auch in der anderen Richtung nichts. Der Mann war verschwunden.
Sie keuchte weiße Atemfahnen. Lauschte in die Stille. Ihre Brust hob und senkte sich rasch. Die Kälte stach in den Atemwegen. Im Mund schmeckte es, als habe sie auf einer Kugel Alufolie gekaut – metallisch, nach Adrenalin, das die Angst überdeckte. Denn nun war sie die Jägerin, nicht die mögliche Beute.
Es war unnatürlich hell. Der Schnee reflektierte das Restlicht der Stadt bis in den Himmel. Er leuchtete blassorange und grau wie ein unheimlicher Nebel. Alex überquerte die Straße im Laufschritt, um zu sehen, ob der heimliche Beobachter an der Laterne vielleicht Abdrücke im Schnee hinterlassen hatte. Aber da waren jede Menge Spuren von Fußgängern. Zahllose.
Dann vernahm Alex eine Melodie. Ein Pfeifen. Leise. Die Melodie von Bad Moon Rising. Sie riss den Kopf herum, griff die Glock mit beiden Händen, den Lauf auf den Boden gerichtet.
Das Pfeifen konnte von überall und nirgends kommen. Aber niemand pfiff zufällig vor ihrer Haustür ausgerechnet diese Melodie. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Alex hielt die Luft an und registrierte, dass sie das Handy oben hatte liegen lassen und keine Verstärkung anfordern konnte. Außerdem fehlte vom Streifenwagen weiterhin jede Spur – was ein Fluch und ein Segen gleichermaßen war, denn immerhin lief Alex hier mit einer Pistole herum, die noch nicht auf ihren Namen umgeschrieben war und für Probleme sorgen könnte.
Sie schauderte erneut und hatte wieder diesen Geschmack im Mund, als habe sie an einer Batterie geleckt. Sie war sich sicher, dass das Pfeifen aus einer dunklen Seitengasse neben dem Kiosk kam.
Alex sprintete dorthin und presste sich mit dem Rücken an die Front aus rohem Holz. Von der Dachrinne hingen dicke Eiszapfen. Die Gasse führte einmal um den Wohnblock herum. Sie verlief entlang eines schmalen Baches, kam an einem Kinderspielplatz vorbei und stieß dann wieder auf die Straße. Es gab also nur zwei Ausgänge: diesen hier am Kiosk und den nächsten etwa zweihundert Meter weiter beim Ärztehaus. Und irgendwo dazwischen möglicherweise ein irrer Serienkiller.
Das Pfeifen war nicht mehr zu hören. Alex beugte sich nach links und riskierte einen Blick um die Ecke. Die Gasse war schmal, vielleicht knapp über einen Meter breit. Links und rechts war sie von mannshohen Hecken eingefasst, die wie weiße Wände wirkten. Weiter hinten machte die Gasse eine Biegung. An der Ecke stand eine Laterne und warf ihr spärliches Licht zu Boden.
Alex bewegte sich langsam nach vorne. Vorsichtig. Achtsam. Fünf Meter. Zehn Meter. Die mit Frost und Schnee bedeckten Hecken neben ihr schienen mit jedem Schritt dichter zu rücken und höher zu wachsen. Wie in einem Labyrinth aus Eis. Schließlich hatte sie die Laterne erreicht, atmete tief ein und machte einen Ausfallschritt zur Seite – bereit, innerhalb von Sekundenbruchteilen die Glock in Anschlag zu bringen. Doch hinter der scharfen Kurve erwartete sie nichts weiter als gähnende Leere. Eisig pfiff ihr der Wind ins Gesicht. Sie sah eine Parkbank, hörte das leise Gluckern des
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