Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
Vom Netzwerk:
als würde man ein Messer schärfen.
    Jenny glitt rückwärts über den zugefrorenen Lemfelder Stausee, betrachtete das bunte Treiben an diesem strahlenden Tag, dem vorletzten des Jahres, und drehte dann eine halbe Pirouette, um die Laufrichtung zu ändern. Der Wald an den Hängen lag tief verschneit. Am Parkplatz türmten sich die vom Räumdienst zusammengeschobenen Schneehaufen fast bis zur Schulter. Auf der Promenade waren von der Kurverwaltung nahe dem stolz »Yachthafen« genannten Anleger für Segel- und Tretboote eine Glühweinbude, ein Bratwurst- und ein Waffelstand aufgebaut worden, vor denen sich die Menschen in Trauben drängten. Lautsprecherboxen auf Stativen beschallten die dichtbevölkerte Eisfläche gerade mit einem Song von DJ Ötzi. Partymucke, die wahrscheinlich von einer CD mit Après-Ski-Hits abgespielt wurde.
    Zum ersten Mal seit Jahren hatte die Kurverwaltung wieder das Schlittschuhlaufen erlaubt. Das Eis war in diesem Winter über fünfzehn Zentimeter stark. Strohballen grenzten das freigegebene Areal ein, um zu verhindern, dass ein waghalsiger Läufer in die dünneren Bereiche der Eisdecke nahe der Staumauer und dem großen, an einen Flughafentower erinnernden Ablauf vordrang, dort einbrach und auf Nimmerwiedersehen verschwand. Aber manchmal, wenn ein Knacken durch das Eis ging und Jenny die langen Risse betrachtete, war sie sich nicht vollständig sicher, ob das Eis auch an den angeblich sicheren Stellen wirklich Hunderte von Menschen zu tragen vermochte.
    Natürlich wusste sie, dass die Risse nicht wirklich Risse, sondern vielmehr unter Spannung stehende Stoßkanten verschiedener Eisschollen waren, denn ein Gewässer fror niemals ebenmäßig und an allen Stellen gleich schnell zu. Sie wusste außerdem, dass diese Stoßkanten, wenn man sie ausschneiden und wiegen würde, schwerer als das Eis sein mussten, denn in ihnen war kinetische Energie gespeichert. Manche ihrer Schüler waren erstaunt darüber gewesen, als sie erklärt hatte, dass es sich im Weltall ähnlich wie auf dem Eis verhielt und sich die Galaxien laut einiger Theorien an solchen Schwerkraft-Strings wie die Perlen an einer Kette aufreihten. Solche Bilder kamen bei den Fünftklässlern im Physikunterricht an der Anne-Frank-Realschule an, die sie derzeit als Lehramtsanwärterin unterrichtete. Zumindest bei den meisten.
    Jenny drehte noch einige Runden, warf einen Blick auf die Uhr und beschloss, dass es an der Zeit war. Sie steuerte auf das Ufer zu, hockte sich auf einen der Strohballen und tauschte die weißen Schlittschuhe gegen ein Paar hohe Schnürstiefel, die sie über die enge Jeans zog. Dann ging sie rüber zu ihrem Auto, dessen roter Metalliclack in der Sonne glänzte. Sie hatte sich den Wagen aus dem Erlös des Bausparvertrags gegönnt, den Oma für sie abgeschlossen hatte – allein, um für das Referendariat mobil zu sein.
    Mit einem Druck auf die Fernbedienung öffnete sie den Wagen, ließ die Schlittschuhe im Kofferraum verschwinden und zog die Strickmütze vom Kopf, unter der sie ihr langes, weizenblondes Haar versteckt getragen hatte. Sie schlüpfte aus dem langen Daunenmantel und warf ihn mit der Mütze den Schlittschuhen hinterher.
    Sie fuhr nach Hause – in ihre kleine Wohnung im Zentrum, duschte lang und heiß. Dann machte sie sich zurecht, schminkte sich, legte Parfüm auf und zog sich wieder an. Eine Bluse, enge Jeans, eine dünne Lederjacke. Sie zitterte, als sie wieder zum Auto lief, und stellte im Wagen die Sitzheizung auf Anschlag, bevor sie den Zündschlüssel herumdrehte und zügig losfuhr.
    Nachdem Jenny wenig später am Rand der menschenleeren Straße gestoppt hatte, griff sie nach rechts zur Handtasche, sprühte sich ein wenig Parfüm in den Ausschnitt, fuhr sich einige Male mit den Fingerspitzen durch die Haare und zog den Lippenstift nach. Mit klopfendem Herzen lief sie zur Haustür, die sich öffnete, kaum dass sie den Klingelknopf betätigt hatte.
    Er hatte sein Hemd bereits weit aufgeknöpft, musterte sie mit einem abschätzenden Lächeln. Wortlos griff er nach vorne, fasste sie im Nacken und zog sie zugleich ins Innere der Wohnung und an seine Lippen. Er küsste sie ungezügelt. Verlangend. Presste seine Hüften an ihre und ließ sie spüren, dass er bereits hart war. Die Tür fiel ins Schloss. Jenny keuchte, riss sich die Lederjacke vom Leib und stolperte ihm hinterher, als er sie im Rückwärtsgehen an der Gürtelschnalle ins Wohnzimmer zog.
    Gott, turnte der Typ sie an. Er war sicherlich

Weitere Kostenlose Bücher