Totenmond
überging. Seit einigen Jahren gibt es eine Stiftung zum Wiederaufbau des Schlosses.«
Alex schlug die Schenkel aus, um die Muskulatur zu lockern.
»Ich habe mich daran erinnert«, fuhr Martin fort, »weil ich für die Stiftung einmal die Geschichte des Gestüts aufgearbeitet habe. Es gibt da etwas, das von Interesse sein könnte.«
»Und was?«
»Eine Cousine der bekannten Lemfelder Fürstin Luise hatte das Schloss Oberloh um 1870 herum als Altersruhesitz ausgewählt. Sie gehörte zu einem Lemfeld-Schaumburger Zweig der Familie aus der Linie des Herzogs Philipp von Parma. Philipp wiederum ist der Spross eines mächtigen Herrschergeschlechts.«
Alex blieb stehen. Die Daten und Namen ratterten durch ihr Gehirn. Die Äste des Waldes knarrten im Wind. Irgendwo raschelte es im Unterholz. Wahrscheinlich ein Tier. Auch Martin blieb stehen. Sie fragte: »Was willst du mir damit sagen?«
»Ich spreche von dem Haus Bourbon und der Stammliste der Bourbonen, zu der eben auch besagte Cousine der Gräfin Luise zählte. Die Zufahrt zu dem Gestüt Oberloh hat man im Volksmund früher Sonnenkönigsallee genannt – frei nach Ludwig dem Vierzehnten, einem der berühmtesten Bourbonen-Regenten. Wenn du so willst«, erklärte Martin und rollte den Kopf im Nacken, »könnte es sich dabei um deine Bourbon Street handeln.«
43.
D ie weiße Fläche erschien Alex endlos und am Horizont mit dem Himmel zu verschmelzen. Der Wind peitschte über das Feld und trieb losen Neuschnee vor sich her. Aus dem feinen Dunst schälten sich blass die kahlen Gerippe von Bäumen. Sie bildeten eine schmale Allee, die auf einen verlassen in der Schneewüste liegenden Gebäudekomplex zuführte. Er war zunächst nur schemenhaft zu erkennen, gewann jedoch mit jedem Meter an Details. Der Dachstuhl schien ausgebrannt zu sein. Die Fenster waren zersprungen. Die Fassaden mit Einschusslöchern übersät. Brandflecke markierten Einschläge von Granaten. Nichts erinnerte mehr an das stolze Schloss Oberloh, von dem Martin gesprochen hatte.
Schneider pfiff durch die Zähne, als er den Vectra vor dem ehemaligen Hauptgebäude zum Stehen brachte. Obwohl die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht war, trug er Lederhandschuhe und eine Fellmütze. »Sieht ja aus wie in Stalingrad.«
Alex nickte stumm in ihren dicken Wollschal. Dann beugte sie sich nach vorne, nahm eine Taschenlampe aus dem Fußraum und stieg aus. Sie kniff die Augen zusammen, als der Wintersturm ihr ins Gesicht schnitt. Lief mit gesenktem Kopf auf das türlose Portal des Zentralbaus zu, das sie zu verschlucken schien. Es brauchte einige Momente, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten.
Alex sah sich um. Sie stand in einem großen, hohen Raum. Früher wahrscheinlich der Empfangssaal. Eine geschwungene Treppe führte in das obere Stockwerk. Zwei offen stehende Türen markierten die Eingänge zu den Seitenflügeln. An der Decke war die Stuckverkleidung abgeplatzt. Die Wände waren mit Einschusslöchern besprenkelt, viele der Fliesen auf dem Boden zersprungen – sofern sie unter dem Schmutz, vereinzelten Schneehaufen und zersplittertem Holz überhaupt zu erkennen waren. Moosflechten wucherten in von Stockflecken überzogenen Ecken. Überall lag Müll herum. Plastikflaschen, zerknüllte Zigarettenschachteln, die Aludeckel der Verpackungen von Schnellmahlzeiten, leere Dosen. Alles mit englischen Aufschriften. Dazwischen glänzte das angelaufene Messing leerer Patronenhülsen.
Einige kullerten hohl klimpernd über die Kacheln, als Schneider über die abgewetzten Stufen geduckt hereingelaufen kam und mit den Schuhen dagegenstieß. Die an seiner Fellmütze befestigten Ohrschützer baumelten im Wind.
»Ziemliche Müllhalde. Die Stiftung, die sich angeblich um dieses Schloss kümmert, sollte mal ein Benefizkonzert mit den Oberkrainern geben, dann sähe das hier anders aus«, brummte er, schaltete die Maglite ein und ließ den Lichtkegel über den Boden, die windschiefe Treppe und die dunkelgrauen Wände tanzen. Er kickte eine verrostete Patrone an und versetzte sie in kreiselnde Bewegungen. »Nato-Kaliber. Sturmgewehre«, sagte er. »Die Briten proben in diesen Kampfdörfern …«
»… Häuserkampf für Auslandseinsätze«, ergänzte Alex.
Schneider zog die Nase hoch. »Wenn du recht hast und das hier ein Tatort ist, glaube ich kaum, dass wir im Hauptgebäude richtig sind.«
»Warum?«
»Die Bereiche sind öffentlich zugänglich. In der Gegend sind häufig Wanderer und Spaziergänger
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