Totenmond
unterwegs, seit die Briten weg sind. Im Sommer gibt’s auch geführte Ausritte, die am alten Schloss vorbeiführen. Und sicher treibt es hier auch mal Jugendliche hin, die sich gruseln wollen.«
Wie zum Beweis leuchtete Schneider auf einen Brandfleck am Boden. Im Schein der Taschenlampe waren Holzkohlereste sowie leere Bierdosen mit dem verblichenen Aufdruck der Lemfelder Privatbrauerei zu erkennen.
Alex nickte. »Was glaubst du?«
Schneider kratzte sich mit der freien Hand am Kinn und ging auf die Treppe zu. »Wenn hier über Monate hinweg unentdeckt eine Leiche liegen sollte …«
Das Licht der Taschenlampe tanzte über die Stufen. Schließlich ging Schneider um die Treppe herum und blieb vor einer Holztür stehen, die sich unter dem Aufgang befand. Er ruckelte an dem rostigen Griff, aber nichts tat sich. »Die Stallungen«, sagte er nachdenklich und leuchtete das Schloss ab, »sind nicht unterkellert. Das hier sieht mir aber durchaus vielversprechend aus.«
»Das ist ein altes Schloss. Wenn jemand eine Leiche in den Keller gebracht hätte, müsste er dazu einen Schlüssel haben, wenn …«
Bevor Alex ihren Satz beenden konnte, drückte ihr Schneider die Taschenlampe in die Hand und machte einen Schritt nach hinten. »In solchen alten Gebäuden wurden die Vorratskeller von außen beliefert. Sicher befindet sich draußen irgendwo eine Luke, durch die man sich ebenfalls Zugang verschaffen könnte.«
Er trat mit voller Wucht gegen die Tür. Sein schwerer Stiefel traf das vom Frost und Rost poröse Schloss. Es sprang mit einem Krachen in einer Wolke aus Splittern und rötlichem Staub aus der Verankerung.
»Die Spusi wird’s mir verzeihen«, murmelte er und nahm Alex die Taschenlampe wieder ab, um in den Schlund zu leuchten, der sich gerade aufgetan hatte.
Die Stufen der Holztreppe knarrten, als Schneider und Alex sich nach unten tasteten. Das Heulen des Windes wandelte sich in ein dumpfes Dröhnen. Im Licht der Taschenlampen traten Tropfsteine und Eiszapfen an der niedrigen Decke hervor. Der Geruch nach Moder und Staub wurde intensiver und schien die abgestandene Luft vollkommen zu erfüllen, als sie am mit Schutt übersäten Boden angekommen waren.
Instinktiv zog sich Alex den Strickschal wie einen Atemschutz über Mund und Nase und versuchte zu schlucken, was ihr jedoch nicht gelingen wollte. Mit jeder Stufe war das Gefühl der Beklemmung gewachsen. Sie spürte, dass ihr Herz immer kräftiger und schneller gegen die Rippen pochte.
An den Wänden des Kellerraums befanden sich alte Holzregale. Alex’ Atem stockte, als das Licht der Taschenlampen eine weitere Tür fand, auf der sich ein Schriftzug befand. Nein, es war keine Schrift. Es waren Zeichen, fast schwarz, die sich kaum von dem dunklen Holz abhoben.
Ein Halbkreis mit Sternen. Dreiecke. Unverkennbar.
»Bingo«, sagte Schneider heiser und streckte die Hand aus, um die Tür zu öffnen. Am liebsten hätte Alex ihn zurückgehalten. Irgendetwas in ihr fürchtete sich davor, die Pforte in das Herz der Finsternis aufzutun, hinter der sich nichts als Entsetzen befinden würde – ein Grauen, geschaffen von der Hand eines Wahnsinnigen, der die Gruft mit dem Blut seines Opfers versiegelt hatte. Aber dann gab die Tür unter Schneiders Druck nach.
Wie Schlaglichter brannten sich die Details in Alex’ Netzhaut, als die Lichtkegel der Maglites durch die Kammer leuchteten.
Ein dunkel verschmierter Holztisch. Lose herabhängende, verwitterte Klebebandfetzen. Dunkle Spritzer an den rohen Wänden. Vertrocknete Lachen am Boden. Dann eine halb skelettierte Hand und ein Unterarmknochen. Schließlich der Rest des halbverwesten Körpers, der mit Frost und Flechten überzogen war. Eiszapfen hingen vom Kinn des Schädels herab, der Alex aus leeren Augen anstarrte, den Mund weit wie zu einem anklagenden Schrei geöffnet.
Alex keuchte auf, wirbelte herum und lief der Treppe entgegen. Die schimmeligen Wände schienen sich zusammenzuziehen und sie zerquetschen zu wollen. Panisch hetzte sie die Stufen hinauf. Ihre Speiseröhre brannte von sprudelnder Magensäure.
Als sie im Saal angekommen war, pumpte sie die eiskalte Luft mit schnellen Atemstößen in ihre Lungen. Weiß. Draußen war alles hell und weiß. Rein. Sauber. Die klare Luft und der schneidende Wind vertrieben den Modergeruch und die Dunkelheit des Alptraums, der sich ein Stockwerk tiefer unter ihr befand.
»O Gott«, murmelte sie und unterdrückte den Würgereiz, indem sie weiter Sauerstoff in ihre Atemwege
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