Totenmond
Aber was nützte ihr das?
Alex legte das Handy auf den Küchentisch, öffnete den mit Post-it-Zetteln gepflasterten Kühlschrank und starrte in das gutgefüllte Innere. Links lagen die Wurstverpackungen übereinandergeschichtet, rechts daneben der Käse, nach Sorten aufgeteilt. Darüber standen die Joghurts, sortiert nach Geschmacksrichtung, darunter nahmen Obst, Möhren, Kohlrabi, Salat, Avocados und weiteres Gemüse die restlichen zwei Drittel ein. Im Getränkefach standen vier Mineralwasserflaschen wie Zinnsoldaten aufgereiht, daneben eine ungeöffnete Flasche Ouzo, die ihr Schneider letztes Jahr aus dem Duty-free-Shop vom Flughafen auf Samos mitgebracht hatte. Sie dachte kurz an Mama, dann murmelte sie: »Egal«, nahm die Flasche raus, öffnete den Verschluss und setzte sie an die Lippen. Der Anisschnaps explodierte im Magen, von wo sich eine wohlige Wärme ausbreitete.
Sie ging zurück an den PC und sah, dass eine E-Mail von Mario Kowarsch eingegangen war. Ein Bericht für die Kommission. In der Mail ging es um das Opfer von Schloss Oberloh. Zur genaueren Bestimmung des Todeszeitpunkts sollten ein kriminalbiologisches sowie ein anthropologisches Gutachten erstellt und die Leiche bis dahin unter Verschluss gehalten werden. Laut dem vorläufigen rechtsmedizinischen Bericht, der Spurensicherung und der erkennungsdienstlichen Untersuchung war das Opfer eine Frau, zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt, etwa eins siebzig groß und sechsundfünfzig Kilo schwer, mit kurzgeschnittenen blonden Haaren und auffällig lackierten Fingernägeln. An einigen Hautresten hatte sich ablesen lassen, dass sie Tätowierungen hatte. Außerdem war am Tatort ein Piercing gefunden worden – eines, das für gewöhnlich durch die Zunge gestochen wird. Alles in allem, schrieb Kowarsch, gab es somit eine Reihe von Übereinstimmungen mit den erkennungsdienstlichen Merkmalen einer vermissten Person.
Alex schraubte gedankenverloren ihren Kugelschreiber auf und legte die Einzelteile parallel vor sich hin. Der zerlegte Stift sah mit der Spirale, der Mine und den beiden Gehäuseteilen aus wie eine zum Reinigen auseinandergebaute Waffe. Dann las sie weiter.
Am Donnerstag, dem 14. Juli dieses Jahres, war eine Vermisstenmeldung eingegangen. Sie betraf Heike Fischer, dreiundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Herbertsheide, einem Lemfelder Ortsteil. Sie arbeitete in den Abendschichten als Kassiererin an einer Tankstelle und daneben als Aushilfe in einem Nagelstudio. Sie war montags nicht zur Arbeit erschienen und blieb auch an den Folgetagen verschwunden. Die Leiterin des Nagelstudios gab eine Vermisstenmeldung auf. Ihr Arbeitgeber bei der Tankstelle hatte sich hingegen keinen großen Kopf um ihr Verschwinden gemacht und ausgesagt, es passiere in dem Job häufiger, dass Angestellte von heute auf morgen wegblieben.
Heike Fischer wohnte in einem Zwei-Zimmer-Apartment und hatte die Miete Monat für Monat bar bezahlt statt über einen Dauerauftrag. Die Wohnung hatte einen aufgeräumten Eindruck gemacht. Laufende Handyverträge waren nicht gekündigt worden, ebenfalls nicht der Finanzierungsvertrag für einen nagelneuen Seat, für den nach einer Anzahlung von zehntausend Euro nur noch eine letzte Rate fällig war. Kurz: Heike Fischer war spurlos verschwunden.
Alex betrachtete einige gescannte Fotos. Das erste war eine Art Partybild und zeigte Heike Fischer mit einem Cocktail in der Hand, die Haut von der Sonne verbrannt, lachend und in die Kamera prostend. Im Mund glitzerte etwas – wahrscheinlich das Zungenpiercing. Ein junges Mädchen, das es sich gutgehen ließ.
Aber da war etwas in ihren Augen, das Alex stutzen ließ, und der leere Ausdruck darin war nicht auf das Blitzlicht der Kamera zurückzuführen. Sie erkannte ihn auch in den nächsten beiden Bildern: einem Passfoto und einer weiteren Urlaubsaufnahme, die Heike Fischer im Bikini zeigte. Hier waren die Tätowierungen auf dem Unterschenkel, der Schulter und der Hüfte zu erkennen. Sie wirkten, als sollten sie einmal miteinander verbunden werden. Heike Fischer, dachte Alex, war im Wandlungsprozess und wollte sich vielleicht eine neue Haut überstreifen.
Laut ihrem Vermieter soll sie nur oberflächliche und schnell wechselnde Bekanntschaften gepflegt haben. Demzufolge konnte man annehmen, dass sie ein unstetes Leben führte und sich eventuell als Gelegenheitsprostituierte etwas nebenher verdiente – immerhin hatte sie eine stolze Summe für ihren Wagen bar angezahlt. Angehörige gab
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