Totenmond
es keine. Heike Fischer hatte außerdem, bevor sie vor drei Jahren in die Gegend von Lemfeld zog, in einem betreuten Wohnprojekt gelebt: Sie war Waise – und in späteren Jahren von einer Pflegefamilie adoptiert worden.
»Mist«, flüsterte Alex und baute den Kuli wieder zusammen.
Es passte alles ins Bild. Alle Opfer waren Mitte bis Anfang zwanzig, Waisen, hatten eine Zeit in Pflegeheimen gelebt und waren wie Antje adoptiert worden. Heike Fischer, Nele Bender, Antje an Huef – alle drei hatten einen solchen Hintergrund und schienen ein Doppelleben geführt zu haben – aus welchen Motiven auch immer.
Alex ging zur Balkontür, vor der Hannibal lag wie eine Sphinx. Sie blickte hinaus in die Nacht. Die Sterne glitzerten wie Nadeln in einem schwarzen Stück Stoff, und der …
Der Mond. Scheiße, dachte Alex, der Mond.
Sie lief zurück zum Computer, googelte nach einem Mondphasenkalender, schlug ihr Notizbuch auf und glich einige Daten ab. Sie fügte neue Notizen hinzu. Heike Fischers Todestag könnte Freitag, der 15. Juli gewesen sein. An dem Tag war Vollmond gewesen. Auch Nele Bender und Antje an Huef waren zwei bis drei Tage vor einer Vollmondnacht verschwunden, und jeweils einen Tag vorher waren die Liedtexte verschickt worden, in denen es stets um den Mond ging. Was bedeutete, dass der Täter der Polizei vierundzwanzig Stunden Zeit ließ, ihn aufzuhalten. Tatsächlich blieb weniger Zeit, denn die Briefe kamen erst an, wenn bereits Vollmond war. Es blieben also nur zwölf bis vierzehn Stunden.
Aber wie passte das zu dem, was ihr ViCTOR über die anderen, sehr ähnlichen Mordfälle zugeflüstert hatte?
Sie waren in Afrika begangen worden, an der Elfenbeinküste. Alex musste dringend mehr darüber wissen. Auf der Homepage der französischen Botschaft fand sie eine Kontaktadresse der Polizei an der Elfenbeinküste. Über einen Webmail-Server loggte sie sich mit ihrem dienstlichen E-Mail-Account ein, denn auf eine private Mail würde sicher niemand antworten. Mit Hilfe eines deutsch-französischen Online-Wörterbuchs für einige Fachbegriffe verfasste sie eine Anfrage an die Gendarmerie in der Hauptstadt Abidjan. Danach suchte Alex nach einer Flugverbindung und schickte sich den Link dazu selbst als E-Mail. Eventuell würde sie die bald brauchen.
54.
D as Videovernehmungszimmer war für Befragungen von Minderjährigen oder Zeugen und Opfern von Sexualdelikten vorgesehen. Heute allerdings saß dort jemand, der im dringenden Verdacht stand, ein Serienmörder zu sein.
Die Kamera verfügte über eine Fernsteuerung, mit der man auch zoomen konnte. Die Fernsteuerung befand sich im Nebenraum. Ohne zu fragen, griff Alex nach dem kleinen Joystick und drückte den Hebel so lange nach vorne, bis das Gesicht des Mannes den Flachbildschirm vor ihr vollständig ausfüllte.
Alex fragte: »Wer ist das, und was hat das alles zu bedeuten?«
Schneider streckte sich in dem unbequemen Holzstuhl aus und zog sich dabei die Hose hoch. Reineking drehte eine Kaffeetasse in der Hand. Er trug Jeans und einen Rollkragenpullover. Die Sache mit den Anzügen hatte er an dem Tag aufgegeben, an dem der Landrat hatte verlauten lassen, dass Veronika die Leitungsstelle bekam. Gestern war ihr erster offizieller Arbeitstag als Dezernatsleiterin gewesen. Sie war mit einem Paukenschlag eingestiegen, wie es schien.
»Elmar Hankemeier«, sagte Reineking und strich sich über eine Geheimratsecke, »dreiundvierzig Jahre, selbständig, alleinstehend. Hat das Geschäft seines Adoptivvaters übernommen und vermietet Baugerüste, womit er sich eine goldene Nase verdient hat. Sie haben ihn gestern festgenommen.«
Alex sah fragend vom Monitor auf.
Schneider machte eine abwehrende Geste. »Ich hatte davon keine Ahnung, keinen Schimmer.«
Reineking holte tief Luft und hielt sie einen Moment an. »Ich bis gestern Abend ebenfalls nicht«, stieß er hervor. »Aber es sieht nach einem Volltreffer aus. Hankemeier hatte über GetLove Kontakt zu allen drei Opfern. Sie haben Online-Profile ausgewertet, Vergleiche angestellt, Schnittmengen gefunden und diese überprüft. Hankemeier hat mit zweien der drei Opfer gemailt, sie ausgefragt, sich mit ihnen verabredet und eine nach der anderen gevögelt. Das dritte Opfer vielleicht ebenfalls, wissen wir aber noch nicht.« Reineking blätterte lustlos in einigen Papieren. »Er hat den Kontakt mit den Opfern bestätigt, will den Mordverdacht unbedingt ausräumen, weswegen er sich kooperativ zeigt. Sie haben einen
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