machte er sich auf den Weg und überlegte, dass doch nicht er schuld war an dieser beschissenen Situation. Es war die Schuld der Jägerin. Sie war endlich im Spiel und hatte ihm aufgezeigt, womit zu rechnen war. Er ließ die Hand in der Manteltasche verschwinden, wo sie das Rasiermesser fand. Der Daumennagel kratzte über die geriffelten Griffschalen. Wir werden sehen, dachte der Mann. Wir werden sehen.
53.
Von:
[email protected] Betreff: Weiterleitung Faxnachricht Moosleitner
Dateianhänge: 1
Lieber Kollege Berner,
mein Sekretariat hat mir Ihren Begutachtungswunsch weitergeleitet. Wegen der Feiertage komme ich erst jetzt dazu, Ihnen zu antworten.
Bei dem mir zur Verfügung gestellten Piktogramm handelt es sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um Nsibidi, eine westafrikanische Bilderschrift. Man nimmt an, dass sie aus Nigeria stammt und ihre Ursprünge als Geheimschrift hat. Sie findet bis heute Verbreitung. Sie ist sehr pittoresk und wird auch auf Textilien gemalt, die zu rituellen Zwecken eingesetzt werden. Die Vielfalt von Nsibidi und seiner regionalen Unterschiede macht ohne weitere Detailkenntnis zur Herkunft eine präzise Übersetzung schwer. Eines bezeichnet zum Beispiel Leopardenfell. Im Zusammenhang mit den übrigen Symbolen würde ich vorschlagen wollen, dass mit der Inschrift vor Raubkatzen gewarnt werden könnte bzw. die Urheberschaft einer Jägergemeinschaft oder deren Revier markiert werden soll.
Wegen der Kürze der Zeit bitte ich Sie um Nachsicht in Bezug auf meine nur frakturhafte Einschätzung.
Herzlich, Ruedi Moosleitner
Alex starrte auf den Bildschirm. Im Licht der Schreibtischlampe leckte sich Hannibal die Pfoten. Eine Warnung vor Raubkatzen. Die Reviermarkierung eines Jägers, verfasst in einer Geheimsprache, und es war darin die Rede von Leopardenfell. Sie dachte an die beiden Morde in Afrika, von denen sie erst vor wenigen Stunden über ViCTOR erfahren hatte. An das Leopardenfell, das an den Tatorten in Lemfeld gefunden worden war.
Wie hing das alles zusammen?
Wie in Trance griff Alex nach links, wo ein nagelneuer Post-it-Block lag. Sie riss die Plastikverpackung ab. Dann nahm sie einen Edding und begann, jedes Blatt mit einem neuen Schlagwort zu versehen.
Nach einer halben Stunde war der Block fast voll, und Alex blätterte ihn durch wie ein Daumenkino. Sie ging in die Küche, stellte sich vor den amerikanischen Kühlschrank und klebte Blatt für Blatt auf die Tür. Am Ende schimmerte nichts mehr von der silbern glänzenden Edelstahloberfläche durch den blassgelben Zettelwald. Alex trat einen Schritt zurück. Sie sortierte die Zettel neu. Und wieder. Und noch ein weiteres Mal. Schließlich, als die Geschichte erstmals einen Sinn zu ergeben schien, klingelte das Telefon. Schneider meldete sich auf eine SMS von Alex zurück.
Wie ein Wasserfall ergossen sich die Informationen aus Alex. Sie erzählte von der Verfolgung. Dass es womöglich der Täter gewesen war. Sie berichtete von dem Kennzeichen. Dass der Kerl am Ende doch entkommen war. Doch bevor sie zum Wesentlichen kommen konnte, zu dem, was ViCTOR ihr geflüstert hatte, schnitt ihr Rolf das Wort ab. »Alex«, sagte er und gähnte, »es ist dreiundzwanzig Uhr, ich komme gerade vom Line-Dancing und kann mir das jetzt alles sowieso nicht merken. Lass uns das morgen zu christlichen Zeiten besprechen.«
Alex ging vor dem Kühlschrank auf und ab und schwieg eine Weile. War das zu fassen?
»Rolf. Hast du mir gerade überhaupt zugehört?«
»Mir ist nichts entgangen. Und ich muss sagen: Wow, ach du Scheiße, Gott sei Dank hast du ’ne Streife vor der Tür. Und die Kollegen werden gerade sicher die ganze Stadt filzen, um die Karre von dem Dreckskerl ausfindig zu machen. Aber ich hab jetzt trotzdem Feierabend – und du ebenfalls. Über alles Weitere reden wir morgen.«
Alex zupfte sich nervös an der Haut über ihrem Kehlkopf. »Okay. Ich kann nicht von mir auf andere schließen. Du wirst ja auch nicht von einem Irren verfolgt und bekommst Briefe von ihm.«
»Alex, komm runter.«
»Mhm.«
»Houston an Alex! Bitte wieder in den Erdorbit eintreten!«
Alex schloss die Augen und schnaubte. »Ist ja schon gut.«
»Mein Gott, stell den Fernseher an, lenk dich ab. Nimm ’ne Schlaftablette. Wir sind alle nur Menschen, und jetzt wirst du eh nichts mehr erreichen.«
Alex wollte noch etwas sagen, ließ es aber bleiben. Sie sagte: »Du hast recht.«
Dann beendeten sie das Gespräch. Schneider hatte natürlich recht.