Totenmond
deutete auf ihr Handy. »Ich habe eben eine E-Mail von den dortigen Kollegen abgerufen. Ihr Aktenmaterial ist alt und nicht digitalisiert. Abgesehen davon gibt es wegen der politischen Zustände an der Elfenbeinküste derzeit nur eingeschränkte Möglichkeiten, das Internet zu nutzen. Um an weitere Informationen zu gelangen, müsste ich ein internationales Amtshilfeersuchen stellen, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt wahrscheinlich niemand genehmigen würde und was jede Menge Behördenkram bedeutete. Aber es gibt einen anderen Weg.«
Alex warf Reineking einen Blick zu. Er schien ihre Gedanken lesen zu können, starrte dann aber wieder in seine Schokolade, nahm einen Löffel, rührte darin herum und schwieg.
»Du willst nicht im Ernst da runterfliegen? Mitten in ein Krisengebiet?«, fragte Schneider.
Alex nickte und ließ Reineking nicht aus den Augen.
»Veronika reißt dir den Kopf ab«, redete Schneider weiter.
»Wenn ich privat verreise, kann ihr das doch egal sein. Sie macht doch eh alles auf eigene Faust«, erklärte Alex und ließ den Blick nicht von Reineking. »Mein Abteilungsleiter könnte mir drei Tage freigeben, ohne sich gegenüber der neuen Direktionsleiterin rechtfertigen zu müssen. Weil ich eine Pause brauche, nervlich am Ende bin, weil mich der Täter verfolgt. Weil ich sogar schon die neue Chefin anpampe vor lauter Stress.«
Reineking blickte weiter in seine Schokolade, ließ den Löffel abtropfen und legte ihn auf die Untertasse. Er fragte: »Wie sicher bist du dir mit dieser Afrika-Sache?«
»Ziemlich.«
»Ich denke«, sagte er nach einer weiteren Pause, »die Belastung der letzten Tage durch die Briefe des Täters und diese Verfolgungen hat dir zu schaffen gemacht. Weiter solltest du deine Einstellung zu der neuen Chefin überdenken und etwas entspannen. Drei Tage sollten dafür reichen.«
Alex lächelte. »Okay.«
Reineking blickte sie ernst an. »Ich habe keine Ahnung, was du in deiner Freizeit machen willst. Und ich will davon erst etwas erfahren, wenn es Relevanz hat.«
Alex nickte.
Schneider faltete die ViCTOR-Kopien zusammen und pfriemelte sie in seine Innentasche. »Elfenbeinküste. Muss man sich da nicht impfen lassen?«
Alex zuckte mit den Achseln. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Vielleicht sollte sie Dr. Pfeiffer mal fragen, ihren Arzt, bei dem sie wegen des Knöchels heute noch einen Termin hatte. Falls er sie nicht hochkant rauswerfen würde.
56.
A lex wischte sich über die Augen. Sie war müde, und die chillige Musik hier im Wartezimmer und die warme Luft taten ein Übriges. Dr. Pfeiffer würde sich gleich noch einmal ihren Knöchel ansehen, und sie würde sich noch einmal nach allen Regeln der Kunst bei ihm für den Vorfall kürzlich entschuldigen.
Auf dem LCD-Fernseher an der Wand liefen abwechselnd Bilder von N-TV, die Unruhen in Marokko zeigten, sowie Werbeslogans, die für kostenpflichtige Wirbelsäulenvermessungen in der Praxis oder die Unterstützung von »Ärzte ohne Grenzen« warben. Alex starrte vor sich hin, während die Zeit dahinfloss. Zeit, die sie eigentlich nicht hatte. Also zog sie ihr Handy aus der Tasche. Gut, dass es Smartphones gab. Sie tippte eine E-Mail an die Kontaktadresse bei der Polizei in Abidjan, kündigte ihren persönlichen Besuch an und schickte sie ab – verbunden mit der Bitte, die Einreiseformalitäten abzuklären. Nicht ganz einfach ohne Wörterbuch, aber mit dem Ergebnis war sie zufrieden. Dann rief sie die E-Mail mit dem Link zur Homepage von Air France auf, die sie sich selbst geschickt hatte. Sie hatte Glück und konnte kurzfristig für morgen die Hinreise und für übermorgen den Rückflug buchen.
Gerade hatte sie auf »Senden« gedrückt und die Bestätigung gelesen, als sie von der Sprechstundenhilfe ins Behandlungszimmer gebeten wurde. Dort wartete bereits Dr. David Pfeiffer, der wieder eine weiße Jeans und ein rotes Polo trug.
»Dem Fuß geht’s besser?«, fragte er und begrüßte Alex mit einem Handschlag.
»Ja«, bestätigte sie. »Ich war sogar schon wieder laufen.«
Pfeiffer verzog das Gesicht und wies Alex mit einer Geste an, auf der Behandlungsliege Platz zu nehmen. Unaufgefordert schnürte sie sich den Stiefel auf und zog den Strumpf aus. Alex blickte zu dem Arzt auf. »Herr Pfeiffer, ich möchte mich noch einmal ausdrücklich bei Ihnen entschuldigen. Ich muss Ihnen einen Mordsschrecken eingejagt haben. Das war wirklich nicht meine Absicht.«
»Sie tun Ihre Arbeit. Irgendeiner muss sich ja um
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