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Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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stahlgrauer Himmel spannte. In einiger Entfernung war die Skyline der Stadt zu erahnen, die ein wenig an die von Frankfurt erinnerte. Allerdings steuerte der Polizist nicht auf der mehrspurigen Straße in Richtung Zentrum, wo sich das Hotel befand, das Alex noch vor dem Abflug online gebucht hatte. Vielmehr bog er ab und jagte in einem Irrsinnstempo über eine breit ausgebaute Straße ohne jegliche Markierungen, die sich vom Zentrum entfernte.
    Links und rechts sausten Gewerbebauten, Wellblechhütten, Lehmbauten oder aus Paletten und Kartons zusammengezimmerte Behausungen vorbei. Autowracks wechselten sich mit fliegenden Händlern ab, die ihre Waren im Straßenstaub ausgebreitet hatten. Immer wieder hupte der Fahrer und wich Menschen aus, die die Straße wie selbstverständlich als Gehweg benutzten. Alex sah Frauen in bunten Kleidern, die Koffer, Pakete, Plastikkanister oder andere Gefäße auf den Köpfen trugen, Männer mit Hühnern in den Händen, dazwischen immer wieder am Rand parkende weiße Fahrzeuge mit der UN-Aufschrift oder rostige SUVs, auf deren Ladeflächen Soldaten oder Angehörige von Milizen an schweren Maschinengewehren standen und das Treiben gelangweilt beobachteten.
    Alex warf durch das von roter Erde verschmierte Rückfenster einen Blick nach hinten. Schemenhaft waren die Wolkenkratzer von Downtown Abidjan zu erkennen.
    »Das ist nicht der Weg zu meinem Hotel«, rief sie nach vorne und war froh, dass ihr Französisch sie nicht im Stich ließ – kein Wunder, sie hatten früher mit der Familie regelmäßig in Frankreich Urlaub gemacht, während Papa sämtliche Golfclubs zwischen Aix-en-Provence und Cannes abklapperte.
    M’Obele lachte, klatschte auf dem Beifahrersitz in die Hände und schmatzte auf seinem Kaugummi. »Da haben Sie recht, Mademoiselle.«
    »Ich würde gerne wissen, wohin …«
    »Jedenfalls nicht zum Hotel«, sagte M’Obele, drehte sich zu Alex um, sah sie aus kugelrunden Augen an und hielt sich am Türgriff fest, als der Fahrer laut schimpfend und hupend einer Ziegenherde auswich. »Die Innenstadt ist seit gestern Abend abgeriegelt. Es gibt Unruhen, Plünderungen, Schießereien. Heute Morgen auch Tote, die Straßen brennen.«
    »Oh«, machte Alex, nickte und versuchte, sich gefasst zu geben.
    »Ausschreitungen wegen der Präsidentschaftswahl«, erklärte M’Obele. »Die Polizei ist mit Tränengas vorgegangen. Die Menge marschierte auf den staatlichen Fernsehsender zu, um ihn zu besetzen.« Der Polizist griff nach vorne, öffnete das Handschuhfach und zog eine Dose Cola und eine beigefarbene Pappkladde hervor. »Wenn Sie mich fragen, Mademoiselle«, sagte M’Obele, »sind Sie sehr leichtsinnig oder sehr von Ihren Ermittlungen besessen, wenn Sie als Ausländerin jetzt an die Côte d’Ivoire kommen. Das Land steht kurz vor der Explosion, und nur, wenn Sie Glück haben, wird der Flughafen nicht kurzfristig von der Armee geschlossen.«
    Er reichte Alex die Akte und die Dose. Sie war so warm wie die Stirn eines fiebernden Kindes.
    »Wird schon schiefgehen«, rief Alex und versuchte ein Lächeln.
    »Gut möglich. Aber ich würde es nicht herbeisehnen. Wenn es Probleme gibt, bringen wir Sie in die Botschaft.«
    »Wohin bringen Sie mich jetzt?«
    »Etwas außerhalb liegt ein kleiner Militärflugplatz, der im Moment von französischen Soldaten gesichert wird. Dort wartet ein Hubschrauber, und zwar nicht ewig.«
    Alex öffnete die Coladose und setzte sie an die Lippen. Es schmeckte widerlich. Sie trank trotzdem. Dann schlug sie die Akte auf.

62.
    D er Mann öffnete die Kellertür und schaltete das Licht ein. Jenny lag auf einem Metallbett, drehte den Kopf mit einem Ruck in seine Richtung und sah ihn mit einer Mischung aus Verzweiflung und Hass an. Ihre Hände und Füße hatte er mit Klebeband an dem Gestell fixiert. Ein Streifen saß über ihrem Mund. Sie atmete hektisch und schnaubend durch die Nase. Er streckte die Hand aus, griff nach dem Stuhl und zog ihn zu sich heran. Dann nahm er darauf Platz, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände im Schoß. »Bekommst du genug Luft?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ist dir kalt?«
    Sie nickte.
    »Wir haben eine vergleichbare Vergangenheit«, erklärte er. »Meine Mutter hat mich als Kind zur Adoption gegeben. Ich habe ein wenig recherchiert und kann mir heute vorstellen, warum sie das getan hat. Genau genommen blieb ihr keine Wahl. Tja, und irgendwie suchen wir Menschen doch immer nur das, was wir kennen oder vermissen.«
    Er

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