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Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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machte eine Pause, wurde zornig und dachte: Doch, man hat immer die Wahl. Sie hatte ihre getroffen und damit die Weichen für den Zug gestellt, der ihn geradewegs in die Hölle fuhr. Sie wollte ihr Leben unbeschwert leben. Unbeschwert davon, dass sie von irgendeinem Freier schwanger geworden war, der ihr vielleicht fünfzig Mark für eine halbe Stunde ungeschützten Sex gegeben hatte. Irgendein Kerl, der sein leiblicher Vater war und der keinen Schimmer von alledem hatte. Ein Fernfahrer oder Angestellter womöglich, der sich nach Feierabend und vor dem Abendessen noch rasch einen Fick bei ihr gekauft hatte.
    Was ihre Identität anging, tja … Seine Möglichkeiten waren nur begrenzt, und er war sehr diskret vorgegangen, um nicht aufzufallen. Keine Spuren zu hinterlassen. Niemanden aufzuschrecken. Die Recherchen hatten zwar Interessantes an den Tag gebracht, aber in Bezug auf sie nur ergeben, dass sie eine Nutte war, die in jungen Jahren versehentlich schwanger wurde. Vielleicht war sie schon längst tot. Das Drecksstück.
    »Weißt du, was du bist?«, fragte der Mann.
    Die junge Frau sah ihn flehentlich an.
    »Du bist ein Stück Dreck«, erklärte er in sachlichem Tonfall. »Vielleicht sogar noch etwas weniger.«
    Er griff in die Innentasche und zog sein Handy hervor, öffnete den Mediaplayer und startete die Videosequenz des Films, den er kürzlich mit der versteckten Kamera aufgenommen und auf das Telefon überspielt hatte. Er hielt ihr das Display vors Gesicht.
    »Kommt dir bekannt vor, oder?« Er stoppte das Video und steckte das Handy zurück in die Innentasche. »Tja, und dein Freund«, er zuckte mit den Achseln, »er nimmt sich die Weiber, wie es ihm gefällt. Aber du bist ihm scheißegal. Und lustigerweise habe ich heute im Radio erfahren, dass sie ihn für mich halten.« Der Mann hatte die Presserklärung von der Verhaftung gehört und sofort geahnt, wer der Inhaftierte war. Nämlich der Mann, auf den Jenny im Jacks gewartet hatte. Der Mann, der sie auf dem Video vögelte, dass er Jenny gerade vorgespielt hatte. Dieser jemand war der Andere.
    Er strich Jenny über die Wange. »Tut der Kopf noch weh? Es war ein ziemlich harter Schlag.«
    Sie regte sich nicht.
    »Weißt du«, fuhr er fort, »ich brauche dich wirklich dringend.« Er sah auf seine Uhr und machte »O-oh«. Dann stand er auf. »So, die Mittagspause ist beendet.« Im Gehen drehte er sich noch einmal um. »Kennst du den Alabama Song? Von Kurt Weill aus dem Brecht-Stück Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny? In der Version von den Doors?«
    Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf.
    Er seufzte. »Warum wusste ich das nur?«
    Er ging hinaus, drehte den Schlüssel im Türschloss herum und tänzelte die Treppe hinauf.

63.
    D ie Akte lag immer noch auf Alex’ Schoß, als sich der Armeehubschrauber im Tiefflug den Weg durch die klebrige graue Luft bahnte. An der offen stehenden Tür rauschte die atemberaubende Landschaft Afrikas vorbei.
    Alex konnte den Blick nicht abwenden. Das Grün der Pflanzen, Wiesen und Weiden schien viel intensiver als anderswo zu sein. Dazwischen tauchte immer wieder das schlammfarbene Band eines Flusses auf oder die rotbraune Linie einer Straße. Schließlich war die Sumpflandschaft in die Savanne übergegangen, und gerade eben hatte Alex gemeint, eine Antilopenherde entdeckt zu haben, aber der ihr gegenübersitzende Roger M’Obele hatte erklärt, das seien Paviane gewesen.
    Alex faltete die Hände über der Akte zusammen und sah nachdenklich zu Boden. Die warme, trockene Luft ließ den Stoff ihrer Cargohose flattern. Ihre Füße steckten in Trekking-Schuhen, über die sich eine puderige Schmutzschicht gelegt hatte. Sie sah auf und bemerkte, dass M’Obele sie musterte.
    »Die Vorfälle sind nicht die einzigen in der Region gewesen«, erklärte er ohne jeden Zusammenhang und deutete auf die Mappe. Seine Stimme knarzte in Alex’ Kopfhörern. »Ich bin mit den Ereignissen nicht direkt befasst gewesen, aber die Fälle der zwei toten Krankenschwestern sind damals wegen ihrer internationalen Bedeutung auf meinem Schreibtisch gelandet.«
    »Nur deswegen?«, fragte Alex in das Headsetmikro.
    M’Obele antwortete mit einer abschätzenden Geste.
    Tote Ausländer bedeuteten ein Sicherheitsproblem. Sicherheitsprobleme konnten es nach sich ziehen, dass Hilfsorganisationen zunächst Personal abzogen und schließlich den Geldhahn zudrehten. Zumal, dachte Alex, wenn sich herumgesprochen hatte, auf welche Art und Weise die Frauen ums

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