Totenmontag: 7. Fall mit Tempe Brennan
war Claudel zurück.
»Etwas Wichtiges liegt an.«
Meine Befürchtungen wurden also als Hirngespinste abgetan.
Ich habe einen ziemlich dünnen Geduldsfaden, das gebe ich zu. Und manchmal reißt er. Claudels herablassende Art trieb mich genau auf diesen Punkt zu. Ich hatte mich, um seinem Terminplan zu entsprechen, zu einer vorläufigen Einschätzung hinreißen lassen, weil ich davon ausging, dass diese Untersuchung eine hohe Priorität hatte, und jetzt tat er meine Vermutungen nach einigen oberflächlichen Fragen als irrelevant ab.
»Soll das heißen, dass dieser Fall nicht wichtig ist?«
Claudel senkte das Kinn und schaute mich an, die Verkörperung unendlich strapazierter Geduld.
»Ich bin Polizist, kein Historiker.«
»Ich bin Wissenschaftlerin, keine Zauberin.«
»Diese Artefakte« – er deutete auf die Knöpfe – »gehören in ein anderes Jahrhundert.«
»Aber drei tote Mädchen gehören jetzt in dieses.« Ich stand abrupt auf.
Claudel versteifte sich und kniff die Augen zusammen.
»Im L’Hôpital de Notre-Dame ist eben eine Prostituierte mit einem Schädelbruch und einem Messer im Bauch eingeliefert worden. Ihre Kollegin hatte weniger Glück. Sie ist tot. Mein Partner und ich werden jetzt gleich einen gewissen Zuhälter verhaften, um die Überlebenschancen anderer Damen zu erhöhen.«
Claudel stieß den Zeigefinger in meine Richtung.
»Das, Madame, ist wichtig.«
Und damit stolzierte er zur Tür hinaus.
Einen Augenblick lang stand ich nur da, und mein Gesicht brannte vor Zorn. Ich hasse es, dass Claudel die Macht hat, mich zur Weißglut zu treiben, manchmal sogar mit Belanglosigkeiten. Aber so war es eben. Er hatte es mal wieder geschafft.
Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen, drehte ihn, legte die Füße aufs Fensterbrett und lehnte den Kopf seitlich an die Wand. Zwölf Stockwerke unter mir erstreckte sich die Stadt in Richtung Fluss. Winzige PKW und Lastwagen flossen über die Jacques-Cartier-Brücke auf ihrem Weg auf die Île Ste-Hélène, in die südlichen Vorstädte, in den New York State.
Ich schloss die Augen und machte einige Yoga-Atemübungen. Langsam verflog meine Wut. Als ich sie wieder öffnete, fühlte ich mich – wie?
Entmutigt.
Verwirrt.
Todesermittlungen sind kompliziert genug. Warum war es mit Claudel immer doppelt so schwierig? Warum konnten er und ich nicht diesen ungezwungenen Informationsaustausch genießen, der meine beruflichen Beziehungen zu anderen Mordermittlern kennzeichnete? Zu Ryan?
Ryan.
Doris meldete sich mit ein paar Szenen aus Bettgeflüster.
Einiges war klar. Claudel hatte eine Entscheidung getroffen. Er mochte keine Ratten. Er mochte die Pizzabude nicht. Er glaubte nicht, dass diese Knochen seine Aufmerksamkeit wert waren. Wenn ich investigative Unterstützung benötigte, musste ich mich an andere Quellen wenden.
Okay, du hochnäsiger verbohrter Skeptiker. Rümpf nur die Nase über meine Analyse, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie zu verstehen. Dann machen wir’s eben ohne dich.
Ich schnappte mir mein Klemmbrett und fuhr wieder nach unten.
Drei Stunden später hatte ich das Skelett-Inventar für LSJML-38 426 abgeschlossen. Die Überreste waren komplett bis auf das Zungenbein, ein winziger, im Bindegewebe des Kehlkopfes eingebetteter U-förmiger Knochen, und ein paar kleinere Hand- und Fußknochen.
Röhrenknochen wachsen, solange ihre Epiphysen, die Gelenkstücke an jedem Ende, vom Knochen selbst getrennt sind. Das Wachstum hört auf, wenn die Epiphysen mit dem Schaft verschmelzen. Zum Glück für Anthropologen marschiert jedes Epiphysenpaar nach seiner eigenen Uhr.
Durch Betrachtung des Entwicklungszustandes der Arm- und Beinknochen und des Schlüsselbeins konnte ich meine Altersschätzung präzisieren. Ich hatte Röntgenaufnahmen der Zähne angefordert, um mir auch die Wurzelentwicklung der Backenzähne ansehen zu können, aber schon jetzt hatte ich keinen Zweifel mehr. Das Mädchen in der Kiste war im Alter zwischen sechzehn und achtzehn Jahren ums Leben gekommen.
Mein Fallformular zeigte ein Dutzend Häkchen in der Spalte »Europäische Abstammung«. Kleine Nasenöffnung. Scharf vorspringender unterer Nasenrand. Spitzwinkliger Nasenrücken. Vorstehender Nasendorn. Wangenknochen eng am Gesicht. Jedes Merkmal und jede Maßangabe platzierte den Schädel eindeutig in die kaukasoide Kategorie. Ich war mir sicher, dass das Mädchen weiß gewesen war.
Und winzig. Die Maße der Beinknochen deuteten darauf hin, dass sie nur gut einen
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