Totenmontag: 7. Fall mit Tempe Brennan
Geländer?«
Anne hatte viele Ausdrücke, die aus ihrer Kindheit in Mississippi stammten. Das war einer, den ich noch nicht kannte.
»Soll heißen?«
»Was hast du heute vor?«
»Ich habe ein Date mit dem letzten Skelett aus diesem Pizzakeller. Und du?«
»Museum für Zeitgenössische Kunst. Das ist die Metro-Station Place-des-Arts, richtig?«
»Ja.«
Ich goss Sahne in meinen Kaffee und legte dann zwei Hälften eines English Muffin in den Toaster.
»Hast du gewusst, dass auf diesem Platz zweitausendfünfhundert Trottel für ein Foto von Spencer Tunick ihre Hosen heruntergelassen und ihre fetten Ärsche in den Regen gereckt haben?«
»Woher weißt du, dass sie alle dicke Hintern hatten?«
»Warst du schon mal an einem FKK-Strand?«
Anne hatte nicht Unrecht. Diejenigen, die es nicht sollten, zeigen sich am bereitwilligsten her.
»Dann St. Denise zum Lunch und zum Einkaufen«, fuhr sie fort.
»Allein?«, fragte ich und dachte an den Burschen in 3C.
»Ja, Mom. Allein.«
»Annie, meinst du, dass dieser Mann hier eingebrochen sein könnte?«
»Warum um alles in der Welt sollte er das tun? Dich kennt er aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht, und das war nichts, womit er mich beeindrucken könnte. Warum sollte er etwas so völlig Verrücktes tun?«
»Irgendjemand hat’s getan.«
»Ich glaube nicht, dass er es gewesen sein könnte, wirklich nicht. Der Kerl sah völlig normal aus. Aber …« Sie beendete den Satz nicht. »Tut mir Leid, Tempe. Das war dumm von mir.«
Ich strich mir eben Brombeermarmelade aufs Brötchen, als Anne wieder etwas sagte.
»Ein anderes Wort für sexistischer Mann?«
»Macho.«
»Mit einem C am Anfang.«
»Claudel.«
Anne verdrehte die Augen so, dass sie über die geblümte Brillenfassung hinausschauten.
»Ich probier’s mit ›Chauvi‹«, sagte sie und konzentrierte sich wieder auf ihr Rätsel.
Ich setzte mich ihr gegenüber und hörte Nachrichten. Ein Feuer in St. Léonard. Die Montreal Canadiens hatten schon wieder verloren. Noch mehr Schnee war unterwegs.
Ich hatte eben mein Muffin aufgegessen, als Anne Brille und Stift weglegte.
»Ist dieser Claudel ein guter Detective?«
Ich blies Luft durch die Lippen.
»Das nehme ich als ein Nein.«
»Claudel ist gründlich, aber engstirnig, überheblich und stur. Außerdem hält er forensische Anthropologen generell für überflüssig, und weibliche ganz besonders. Jede Anregung fasst er als Einmischung auf.«
»Lass mich raten. Bei deinem Skelett-Fall gibt er sich nicht gerade die allergrößte Mühe.«
»Was ich mache, ist in seinen Augen reine Zeitverschwendung. Und er betrachtet ihn als seinen Skelett-Fall, nicht als meinen.«
»Du hattest dieses Problem mit ihm schon früher, nicht?«
»O ja, und wie. Oft im Unrecht, aber nie im Zweifel, das ist Claudel.«
»Er ist also nicht gerade dein Liebling?«
»Claudel ist alles andere als ein Komiker. Seine Fragen sind barsch bis zur Unverschämtheit, und er erklärt so gut wie nie, warum ihn gewisse Fakten interessieren oder warum meine Ansichten es nicht tun.«
»Was müsstest du tun, damit er dich beachtet?«
»Ich könnte nackt Halleluja singen.« Ich stand auf und legte ein zweites Muffin in den Toaster.
»Den Körper dafür hast du noch, aber die Stimme hattest du nie. Ich meinte jetzt eher in professioneller Hinsicht«, sagte Anne.
»Der strittige Punkt ist das postmortale Intervall. Claudel glaubt, dass die Knochen alt sind. Ich nicht. Ich habe Proben für einen C-14-Test an ein Labor geschickt, aber die Ergebnisse bekomme ich frühestens in einer Woche.«
»Was könnte ihn sonst noch aufhorchen lassen?«
»Sechs oder sieben tote Kinder im Vorschulalter.«
»Langsam gehst du mir auf die Nerven, Tempe. Ich stelle dir eine ernsthafte Frage.« Sie hielt mir ihre leere Tasse hin. »Was würde Claudel dazu bringen, sich mehr für deine Knochen zu interessieren?«
»Ein Beweis, dass sie jüngeren Datums sind.«
Ich goss beide Tassen voll und gab ihr eine.
»Na also.« Sie streckte mir die Innenfläche der freien Hand hin.
»Claudel glaubt, dass ein solcher Beweis nicht vorliegt.«
»Warte nicht auf den C-14-Test. Überzeuge ihn.«
»Er weigert sich, die Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen.«
»Dann gib ihm was zum Nachdenken.«
»Was soll ich denn tun? Schläger anheuern, die ihn verprügeln, bis er einverstanden ist?«
»Einverstanden mit was?«
»Zu ermitteln.«
»Soll heißen?«
»Was soll das jetzt werden, ein Ratespiel?«
Ich setzte
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