Totenmontag: 7. Fall mit Tempe Brennan
zweiten.
Und meinen dritten.
20
Drei Tage hintereinander verlangte kein Toter aus der Provinz die Aufmerksamkeit der Anthropologin. Keine verwesende Leiche in einem Güterwaggon. Keine Mumien auf Dachböden. Kein einziges gefrorenes Leichenteil.
Am Dienstag versuchte ich, noch einige Ménards und Truongs anzurufen, und arbeitete dann die liegen gebliebenen Stapel Fallberichte, E-Mails und Korrespondenz auf. Anne schlief bis zwei und schaute sich dann lustlos Seifenopern und Wiederholungen an. Sie begann kaum ein Gespräch, obwohl ich mir extra den Nachmittag freigenommen hatte, um bei ihr zu sein. Zum Abendessen trank sie drei Viertel einer Flasche Lindmans, behauptete dann, sehr müde zu sein, und schlich gegen zehn ins Bett. Wie müde kann man sein, wenn man nur acht Stunden auf war und nichts getan hat?, fragte ich mich.
Jeden Dezember kommen Kunsthandwerker aus der ganzen Provinz in Montreal zusammen, um im Salon des métiers d’art du Québec ihre Waren zu verkaufen. Am Mittwoch scheuchte ich Anne mittags aus dem Bett und schlug ihr einen weihnachtlichen Einkaufsbummel vor.
Sie hatte keine Lust.
Ich bestand darauf.
Nur ein paar Millionen Leute tummelten sich auf der Place Bonaventure. Ich kaufte eine Keramikschüssel für Katy, einen geschnitzten Pfeifenständer aus Eichenholz für Pete, einen Schal aus Lamawolle für Harry. Birdie und Boyd, Petes hündischer Hausgenosse in Charlotte, bekamen schicke Wildlederhalsbänder. Apricot für die Katze. Waldgrün für den Chow-Chow.
Ein Stand mit handbemalten Seidenwaren brachte mich auf Ryan. Eine Krawatte? Nix da.
Anne schleppte sich lethargisch von Stand zu Stand und zeigte so viel Interesse wie eine Laborratte aus einer Kontrollgruppe. Ich spendierte ihr Schokotoffees und setzte lustige Hüte auf. Legte mir sogar das Hundehalsband um. Hin und wieder versuchte sie, Interesse zu zeigen, versank dann wieder in Teilnahmslosigkeit, fast so, als wäre ich nicht da. Nichts konnte sie aufheitern. Sie kaufte überhaupt nichts.
Annes Depression war inzwischen noch tiefer als der Marianen-Graben geworden.
Den ganzen Tag lang nahm ich sie immer wieder in den Arm und sagte tröstende Sachen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Sie war äußerst schweigsam, was für sie eigentlich unnatürlich ist.
Beim Abendessen stocherte sie in ihrem Sushi nur herum und konzentrierte sich lieber auf eine neuerliche Alkoholvergiftung. Zu Hause schützte sie wieder Müdigkeit vor und ging in ihr Zimmer.
So niedergeschlagen hatte ich meine Freundin noch nie erlebt, ich konnte den Ernst ihrer Lage kaum einschätzen. Ich wusste, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte, aber bis zu welchem Grad sollte ich mich einmischen? Vielleicht verzog sich dieses Stimmungstief einfach wieder.
Besorgt schlief ich ein und träumte von Anne an einem dunklen, leeren Strand.
Am Donnerstagmorgen sah ich in meiner E-Mail-Box, dass Arthur Holliday mir die C-14-Resultate geschickt hatte.
Ich hatte die Finger über der Tastatur und starrte die Betreff-Zeile an.
Ich wartete doch schon so ungeduldig auf den Bericht. Warum zögerte ich jetzt?
Ganz einfach. Eigentlich wollte ich gar keine Bestätigung dafür, dass wieder einmal unschuldigen jungen Frauen brutale Gewalt angetan worden war.
Ich wollte gar nicht wissen, dass schon wieder Mädchen, die kaum die Kindheit hinter sich hatten, das Leben genommen worden war von – ja, von wem? Irgendeinem Freak mit dem Kopf voller Pornographie, der nur durch körperliche Unterwerfung seiner Opfer sexuelle Befriedigung finden kann? Einem Geistesgestörten mit einer Videokamera, der Beweise beseitigen muss? Oder einem mutierten Macho-Arschloch, der Frauen als Wegwerfobjekte betrachtet, die man nach perversem Missbrauch einfach beiseite schaffen kann? All diese Typen sind unter uns.
Ich wollte fast, dass Claudel Recht hatte. Ich wollte, dass die Knochen aus der Vergangenheit stammten. Dass sie Töchtern gehörten, die vor langer Zeit von trauernden Familien zur ewigen Ruhe gebettet worden waren. Aber ich wusste es besser, ich wusste, ich musste mich den Testergebnissen stellen, wenn ich bei der Identifikation der Opfer helfen wollte.
Tief durchatmen.
Ich klickte auf Abholen und öffnete dann die Acrobat-Datei.
Die Mail bestand aus fünf Seiten: das Anschreiben, der Bericht über die Radiokarbon-Analyse und drei Graphiken, die das jeweilige C-14-Alter in Kalenderjahre übersetzten.
Ich betrachtete die aktuell gemessenen und die definierten
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